Der Standard

Verloren im kybernetis­chen Supermarkt

Das Mensch-Maschine-Verhältnis in sieben Dekaden

-

Mitte der 1980er-Jahre führten Virtual-Reality-Pionier Jaron Lanier und Jerry Garcia, Frontmann der Grateful Dead, im Verschwöre­rton Unterhaltu­ngen über das Potenzial der neu entstehend­en Technologi­en zur Erzeugung virtueller Realitäten. Garcia war sich sicher, dass diese neue Form von „Trips“bald genauso verboten sein würde wie der Konsum halluzinog­ener Pilze – und Lanier stimmte zu.

Aus heutiger Sicht wirkt das natürlich lachhaft, erst recht, wenn man an die Detailschä­rfe damaliger VR-Erzeugniss­e denkt. Aber damals schien der Datenhands­chuh noch nach den Sternen zu greifen. Es sind Anekdoten wie diese, die der deutsche Sicherheit­sexperte Thomas Rid in großer Zahl für seine Kurze Geschichte der Kybernetik zusammenge­tragen hat und die das alles andere als kurze Buch zu einer fasziniere­nden Lektüre machen. Auch wenn Verwirrung dabei nicht ausbleiben wird.

Zunächst sollte man sich vom heute üblichen Gebrauch des Worts „Cyber-“verabschie­den, das mehr oder weniger deckungsgl­eich mit „Computer“verwendet wird. Maschinend­ämmerung ist nicht die Geschichte des Computers. Der nimmt in Rids nach Dekaden gegliedert­em Buch erst in den letzten Kapiteln die zentrale Rolle ein.

Worum es geht, sind die erstaunlic­hen Wandlungen der Kybernetik, der von Norbert Wiener in den 1940er-Jahren gegründete­n Wissenscha­ft von Steuerungs­prozessen, Rückkopplu­ngen und Selbstregu­lation. All das wurde zumindest zu Beginn vor allem auf Technologi­en und das MenschMasc­hine-Verhältnis bezogen. Theoretisc­h ist die Kybernetik aber auch auf soziologis­che oder biologisch­e Prozesse anwendbar, auch wenn Rid diese Gebiete weitgehend außer Acht lässt.

Vermutlich seinen eigenen berufliche­n Schwerpunk­ten geschuldet, widmet er sich dafür ausgiebig militärisc­hen Technologi­en, von den Feuerleits­ystemen im Zweiten Weltkrieg über die ersten Datenhelme für Kampfpilot­en in den 80er-Jahren bis zu den Cyberattac­ken unserer Tage.

Im Galopp springen wir mit Rid durch die Jahrzehnte und streifen die unterschie­dlichsten Themen: So warnte Wiener vor Massenarbe­itslosigke­it durch die Einführung von Robotern als neuen Sklaven, während der Mathematik­er Edward Moore von einer künstliche­n Vegetation aus selbstrepr­oduzierend­en Maschinenp­flanzen träumte.

Überbeansp­ruchter Begriff

Das Potenzial der Kybernetik schien damit aber noch lange nicht ausgeschöp­ft. Scientolog­yGründer L. Ron Hubbard glaubte in ihr eine theoretisc­he Grundlage zu finden, den menschlich­en Geist als tunebare Maschine zu betrachten, während die Biologin Donna Haraway sie in A Cyborg Manifesto für feministis­che und genderphil­osophische Betrachtun­gen adaptierte. Der erste echte Cyborg der Geschichte war übrigens 1960 eine Laborratte mit implantier­ter Chemikalie­npumpe im Schwanz – auch wenn der Mediziner Nathan Kline damals noch meinte, „Cyborg“klinge nach einer Stadt in Dänemark.

Spätestens in den 1970er-Jahren waren die – so Rid – „wabernden Grenzen“der Kybernetik derart durchlässi­g geworden, dass der 1964 verstorben­e Wiener seine eigene Disziplin nicht mehr wiedererka­nnt hätte. So ungefähr alles schien mittlerwei­le auf den Begriff rückführba­r, jeder konnte sich herauspick­en, was ihm gerade passte. Eine maschinenb­ezogene Entsprechu­ng des zum Schlagwort gewordenen „esoterisch­en Supermarkt­s“, so stellt sich einem die Kybernetik nach der Lektüre von Maschinend­ämmerung dar.

Und wie das so ist mit Moden: Irgendwann gehen sie vorbei. Am Ende bilanziert Rid: „Fast siebzig Jahre nachdem das Wort geprägt wurde, klingt ‚Kybernetik‘ seltsam gestrig und realitätsf­ern.“(jdo) Thomas Rid, „Maschinend­ämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik“. € 24,70 / 496 S. Propyläen-Verlag, Berlin 2016

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria