Ein grundsätzliches Misstrauen gegen die Republik
Auch fast zwei Wochen danach ist die Diskussion über die Aufhebung der zweiten Runde der Bundespräsidentenwahl durch den Verfassungsgerichtshof in Wien längst nicht abgeschlossen.
Das Verfahren rund um die Anfechtung der Präsidentschaftswahl kulminierte in einer Frage, die Höchstrichter Johannes Schnizer den Anwälten von Alexander Van der Bellen stellte. Schnizer wollte wissen, was die Wahlaufhebung aus dem Jahr 1927, die Hans Kelsen persönlich damals aufbereitete, vom gegenwärtigen Fall unterscheide. Dass die Antwort auf diesen Vergleich eine rein juristische sein sollte und nicht eine offenkundig politische sein muss, kennzeichnet diese Republik seit 1945.
Zwar können durchaus rechtliche Besonderheiten für die Wahlaufhebung von 1927 genannt werden, denn damals lag ein konkreter Manipulationsverdacht vor: Ein Bezirkswahlleiter hatte im Nachhinein die Stimmergebnisse um die Zahl Hundert verändert; zudem hatten im Bezirk zumindest 84 Personen gewählt, die dazu gar nicht befugt gewesen waren – so etwa Verstorbene.
Diesmal stellte der Verfassungsgerichtshof ausdrücklich fest, es sei nicht einmal der Hinweis auf eine Manipulation aufgetaucht. Der nationale Wählerwille, der mehrheitlich für Van der Bellen ausschlug, wurde jedoch aus formalen Gründen negiert, obgleich der Artikel 141 im Indikativ erklärt, einer Wahlanfechtung müsse erst stattgegeben werden, wenn die Regelwidrigkeit erwiesen ist und „auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war.“Bekanntlich wurde der Gesetzestext gegen den Wortlaut im Konjunktiv ausgelegt, wonach bereits genüge, wenn die Regelwidrigkeit von Einfluss gewesen sein könnte.
Zum Prinzip eines Rechtsstaates gehört es, die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes dis- kutieren zu dürfen, doch akzeptieren zu müssen. Kaum irgendwer ging indes auf die historische Dimension der Frage ein, was unsere Situation von jener im Jahr 1927 prinzipiell unterscheide. Alfred Noll erinnerte zu Recht im Kurier an den Schattendorfer Prozess und den Brand des Justizpalastes im Sommer 1927, als die Polizei 84 Arbeiter niederschoss. Dem Verfassungsgerichtshof sei es im November 1927 um eine politische Botschaft gegangen: Er wollte die Gesetzlichkeit von Wahlen unterstreichen, denn die Erste Republik sei noch keine gefestigte Demokratie gewesen.
Noll ist zuzustimmen, doch nicht nur war die Erste Republik noch nicht demokratisch gefestigt, vielmehr erstarkten bereits die faschistischen Kräfte in Europa. Diktatorische Regime übernahmen Italien, Ungarn, Spanien unter Miguel Primo de Rivera, Polen, Portugal, Litauen …
In Österreich gewann in den Tagen nach dem Justizpalastbrand die faschistische Heimwehr zusehends an Macht. Die Wahlanfechtung von 1927 wurde von der „Einheitsliste“eingebracht, von einer Wahlgemeinschaft aus der Christlichsozialen Partei, der Großdeutschen Volkspartei, der Mittelständischen Volkspartei und der nationalsozialistischen Schulz-RiehlGruppe, also Nazis. Bekanntlich auch nicht gerade die wahren Garanten von Demokratie und Rechtsstaat.
Hans Kelsen war übrigens getreu seiner „Reinen Rechtslehre“noch 1932 – also kurz vor der Machtergreifung Hitlers – davon überzeugt, letztlich müsse die Demokratie durch Mehrheitsbeschluss abgeschafft werden können. Nicht ohne Ironie kann hinzugefügt werden: zumindest solange alle Wahlbeisitzer bei der Auszählung dabei sind.
1933 wurde Kelsen als Professor abgesetzt und musste das Land verlassen. Nach 1945 brach das deutsche Grundgesetz mit dem formalistisch rechtlichen Denken, das Kelsen vertrat: Gegenüber ihren Feinden muss die Demokratie wehrhaft sein und Grenzen der Toleranz kennen.
Würde in Deutschland die Antwort nicht ein wenig politischer ausfallen, wenn ein Verfassungsrichter fragen sollte, was eine Wahlanfechtung in der Weimarer Zeit von einer in unserer Gegenwart unterscheidet? Ist es nicht bezeichnend, wenn im österreichischen Verfahren niemand auf die geschichtlichen Umstände einging? War da nicht noch etwas nach 1927?
Wird diesmal allein der Regelwidrigkeiten wegen die Wahl aufgehoben, müssten zumindest alle, die im Einklang mit den Verfas- sungsrichtern keinerlei Verdacht auf Manipulation haben, nun – ungeachtet ihrer politischen Vorlieben – für den bereits einmal mehrheitlich gewählten Kandidaten stimmen. Eine wirklich demokratische Wiederholung der ersten Stichwahl müsste letztlich auch das Ergebnis vom 22. Mai anstreben.
Nichts gegen Verstöße getan
Falls der Verfassungsgerichtshof indes gehofft haben sollte, mit seinem Spruch das Vertrauen der Freiheitlichen in unser System zu festigen, ist er darin bereits gescheitert. Wen wundert’s? Die Freiheitlichen wussten, wie Norbert Hofer noch am Wahlabend verkündete, schon vorher, dass es zu Regelverstößen bei der Briefwahlauszählung kommt. Sie taten nichts dagegen. Im Gegenteil. Erst im Nachhinein, nach verlorener Wahl, beanstandeten sie, was sie vorher nicht abstellten. Das ist wohl die eigentliche Manipulation, deren Zeuge wir geworden sind und die Millionen an Steuergeldern verschlingen wird. Die Freiheitlichen drohen neuerliche Anfechtungen an. Sie schüren weiterhin den Verdacht auf Manipulation. In ihrem grundsätzlichen Misstrauen gegen die Republik liegt die wahre Parallele zum Jahr 1927. Leider.
DORON RABINOVICI (Jg. 1961) lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien. Zuletzt erschien von ihm „Herzl Reloaded“(Suhrkamp 2016).