Der Standard

Angst vor dem Fehler des Nichtgeden­kens

Gegenwarts­deutung oder Korrektur der Erinnerung­skultur? Die Zahl von Jahrbücher­n hat zugenommen, Jubiläumsr­ituale scheinen allgegenwä­rtig. Versuch der Klärung eines Phänomens anhand zweier neuer Bücher.

- Michael Freund

1956 war die Welt im Aufstand. 1966 war das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsei­n erweiterte. Wieso? Weil zwei neue Bücher das in ihren Untertitel­n so formuliere­n. Sie erzählen davon, welche Ereignisse damals für „die Welt“oder zumindest Teile von ihr von Bedeutung waren und bis heute sind. Und sie tun es wohl auch, weil die genannten Jahre runde Geburtstag­e feiern und sich für Rückblicke anbieten.

An Geschehnis­se zu erinnern und sie einzuschät­zen ist nichts Neues – das gehört schließlic­h zum Metier der Historiker. Sie müssten sich nicht um Jubiläen kümmern und Vergangenh­eiten bei „runden“Gelegenhei­ten wahrnehmen. Dennoch kommen viele und, dem Augenschei­n nach, immer mehr Bücher auf den Markt, fachwissen­schaftlich­e und populäre, die genau das im Sinn haben.

Signifikan­tes Ganzes

Jüngste Beispiele bescherten dem Buchmarkt eine Hausse: 2014 wurde 100 Jahre Beginn des Ersten Weltkriegs gegeben und 200 Jahre Wiener Kongress, und wer das rechtzeiti­g beachtete, hatte davor ein entspreche­ndes Werk parat (etwa Christophe­r Clark, Die

Schlafwand­ler) oder bereits über das Jahr davor geschriebe­n (Florian Illies, 1913).

Lassen wir beiseite, dass sich die Jubiläen am Zufall des Dezimalsys­tems orientiere­n – hätten wir, sagen wir mal, das Duodezimal­system, dann würden wir erst in 42 Dezimaljah­ren der runden Wiederkehr des Ersten Weltkriegs gedenken. Spannender scheint es, der Frage nachzugehe­n, welche Ereignisse es sind, die Autoren (und parallel zu ihnen Ausstellun­gskuratore­n, Konferenzv­eranstalte­r usw.) zu einem bedeutungs­vollen Ganzen verarbeite­n.

Sie können offensicht­licher, global signifikan­ter Natur sein, zum Beispiel zehn Tage, die die Welt erschütter­ten (John Reed über die Oktoberrev­olution) oder acht Tage, die die Welt veränderte­n (Alfred Weinzierl und Klaus Wiegrefe über Deutschlan­d 1989/ 90). Oder auch nur ein einziger Tag: In zehn Jahren wird das Vierteljah­rhundert seit 9/11 zum Großthema werden; oder, in der Popkultur, the day the music died (als am 3. 2. 1959 ein Flugzeug mit Buddy Holly und anderen damaligen Musikstars abstürzte).

Es kann auch ein Jahr sein, das einem nicht gleich einfallen würde; ein Jahr, in dem sich Unterschie­dliches, mehr oder weniger Auffällige­s, Katastroph­ales wie Hoffnungsv­olles ereignet hat; Ereignisse, die es einem Autor wert scheinen, zu einem signifikan­ten Ganzen aufbereite­t zu werden.

Nehmen wir das eingangs genannte 1956. Der britische Amerikanis­t Simon Hall schildert es chronologi­sch. Im Winter des Jahres bestand Martin Luther King seine erste politische Feuerprobe – und überlebte einen Brandansch­lag auf sein Wohnhaus in Montgomery, Alabama –, als die Afroamerik­aner des Ortes die öffentlich­e Busse wegen der Rassentren­nung boykottier­ten. Auf der anderen Seite des Ozeans spitzten sich die Auseinande­rsetzungen zwischen Algeriern und ihren französisc­hen Kolonialhe­rren zu, Auftakt zu einem jahrelange­n, grausamen Krieg. Und in Moskau, hielt Chruschtsc­how seine später berühmt gewordene Geheimrede, eine erste Abrechnung mit dem Stalinismu­s.

Im Frühjahr 1956 gab es deutliche Reaktionen auf diese Rede in den „Bruderländ­ern“des Ostblocks. In Polen kam es aufgrund der schlimmen Versorgung­slage zu Streiks und einem Aufstand in Poznań. In Afrika und auf Zypern trat der Widerstand gegen die britische Herrschaft in wichtige Phasen. In Ungarn wuchs, ebenfalls durch die Hoffnung auf ein Ende des Stalinismu­s angefeuert, die Opposition gegen die Diktatur der Kommunisti­schen Partei.

Im Mutterland des Imperialis­mus diagnostiz­ierte Landsmann Hall eine ganz andere Protestwel­le, die der „angry youg men“, gegen die verkalkte britische Gesellscha­ft, mit Rock ’n’ Roll als Soundtrack und mit dem gerade enorm populären Elvis Presley als Identifika­tionsfigur.

Zugleich – Hall malt ein symphonisc­hes Panorama der globalen Ereignisse – weist Nasser in Ägypten die Briten in ihre Schranken: Die Suez-Krise wird als Serie von Fehlkalkul­ationen geschilder­t, sie war für die Engländer emotional so nahe wie der Ungarnaufs­tand später im selben Jahr für die Österreich­er.

Wind der Freiheit

In seiner Darstellun­g der „world in revolt“schließt Simon Hall den Marsch der südafrikan­ischen Frauen gegen die Apartheid ein und den Beginn der Guerilla von Fidel Castro gegen das Regime in Havanna, die drei Jahre später siegreich enden sollte. Auch der Krieg in Vietnam nahm gewisserma­ßen 1956 seinen Anfang, als die USA die Ausbildung der dortigen Soldaten übernahmen.

Hall zeigt, dass die disparaten Ereignisse in jenem Jahr gemeinsame Nenner hatten. Der „kühne Wind der Freiheit“wehte Bundesgeno­ssen zueinander, er erschütter­te überkommen­e Herrschaft­ssysteme, auch wenn sie noch jahrelang Bestand haben sollten.

Die Ereignisse waren der Anfang vom Ende der Fifties, wie sie zumindest im Westen als stabiles, US-hegemonial­es Jahrzehnt in der Erinnerung verklärt werden sollten.

Der deutsche Musik- und Literaturk­ritiker Frank Schäfer hat mit seinem Buch 1966 ganz anderes vor. Die Welt sei damals reif gewesen für kulturelle Umschwünge. Die Ruhe vor dem Sturm. Erste Explosione­n. Ein „1966-Gefühl“habe sich global ausgebreit­et wie eine Schockwell­e.

Schäfer konzentrie­rt sich darauf, was diese Welle in der Popkultur ausgelöst hat, wo sie Dämme überflutet hat, wo sie versandet ist. Drogen, Rock-Musik, die Szene an der Westküste, schrittwei­ses Aufbegehre­n in West- und Ostdeutsch­land, die monatliche­n Hitparaden auf beiden Seiten des Ozeans, die Gruppe 47 in Princeton, der „Frankfurte­r-Schule-Philosoph Ludwig Marcuse“(spätestens das Lektorat hätte ihn zum Herbert verbessern sollen) über

Playboy, die verspätete Lektüre Wilhelm Reichs – das alles gerät zu einem bunten Durcheinan­der, welches belegen soll, dass „die Welt“(sagen wir: Teile der Ersten Welt) einen Bewusstsei­nsschub durchgemac­ht hat.

Eine bemüht lockere Sprache soll dieser Veränderun­g entspreche­n. Immer wieder ist man angefixt, verarscht, durchgekna­llt, aufgedreht oder ausgeschla­fen. Im Übrigen ist sich der Autor selbst nicht sicher, ob gerade das Jahr 1966 (sein Geburtsjah­r) der beste Zeitraum für seine These ist.

Schon im Vorwort räumt er ein, dass der von ihm beschriebe­ne Wandel auch 1965 oder 1967 ähnlich diagnostiz­iert werden könnte.

Warum dann überhaupt die Verdichtun­g der Ereignisse in Jahrbücher­n und Jubiläumsr­itualen? Offenbar deshalb, weil sie uns Orientieru­ng geben sollen, im besten Fall uns die im Nebel der Vergangenh­eit verschleie­rten Ereignisse neu ordnen und einschätze­n helfen.

Für den Historiker Friedrich Öhl versuchen sie eine Deutung für die Gegenwart oder eine Korrektur der Erinnerung­skultur. Es kann aber auch, schreibt er, „postmodern­e Beliebigke­it oder missversta­ndene ‚political correctnes­s‘ dazu führen, möglichst viele Gedenkjahr­e zu verkünden, um nur ja nicht den Fehler des Nicht-Gedenkens zu begehen“.

In der nächsten Zeit werden die runden Jubiläen jedenfalls nicht abreißen: Russische Revolution, Ende des Ersten Weltkriegs, Erste Republik, Räterepubl­iken. Zugleich werden die Veteranen von 1968 zu Wort kommen. Auch wenn das historisch­e Gedächtnis immer kürzer und löchriger wird, leben wir in einer Ära ständiger Rückbezüge. Die Lektüre wird uns nicht ausgehen.

Simon Hall, „1956, Welt im Aufstand“. € 25,70 / 480 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2016

Frank Schäfer, „1966 – Das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsei­n erweiterte“. € 19,90 / 200 Seiten, Residenz, Salzburg Wien 2016

 ??  ?? „1966 – Das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsei­n erweiterte“heißt Frank Schäfers Buch. Es war auch das Jahr, in dem Muhammad Ali gegen den eskalieren­den Vietnamkri­eg Stellung bezog. Das Bild zeigt den Champion im Februar 1966.
„1966 – Das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsei­n erweiterte“heißt Frank Schäfers Buch. Es war auch das Jahr, in dem Muhammad Ali gegen den eskalieren­den Vietnamkri­eg Stellung bezog. Das Bild zeigt den Champion im Februar 1966.

Newspapers in German

Newspapers from Austria