Angst vor dem Fehler des Nichtgedenkens
Gegenwartsdeutung oder Korrektur der Erinnerungskultur? Die Zahl von Jahrbüchern hat zugenommen, Jubiläumsrituale scheinen allgegenwärtig. Versuch der Klärung eines Phänomens anhand zweier neuer Bücher.
1956 war die Welt im Aufstand. 1966 war das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsein erweiterte. Wieso? Weil zwei neue Bücher das in ihren Untertiteln so formulieren. Sie erzählen davon, welche Ereignisse damals für „die Welt“oder zumindest Teile von ihr von Bedeutung waren und bis heute sind. Und sie tun es wohl auch, weil die genannten Jahre runde Geburtstage feiern und sich für Rückblicke anbieten.
An Geschehnisse zu erinnern und sie einzuschätzen ist nichts Neues – das gehört schließlich zum Metier der Historiker. Sie müssten sich nicht um Jubiläen kümmern und Vergangenheiten bei „runden“Gelegenheiten wahrnehmen. Dennoch kommen viele und, dem Augenschein nach, immer mehr Bücher auf den Markt, fachwissenschaftliche und populäre, die genau das im Sinn haben.
Signifikantes Ganzes
Jüngste Beispiele bescherten dem Buchmarkt eine Hausse: 2014 wurde 100 Jahre Beginn des Ersten Weltkriegs gegeben und 200 Jahre Wiener Kongress, und wer das rechtzeitig beachtete, hatte davor ein entsprechendes Werk parat (etwa Christopher Clark, Die
Schlafwandler) oder bereits über das Jahr davor geschrieben (Florian Illies, 1913).
Lassen wir beiseite, dass sich die Jubiläen am Zufall des Dezimalsystems orientieren – hätten wir, sagen wir mal, das Duodezimalsystem, dann würden wir erst in 42 Dezimaljahren der runden Wiederkehr des Ersten Weltkriegs gedenken. Spannender scheint es, der Frage nachzugehen, welche Ereignisse es sind, die Autoren (und parallel zu ihnen Ausstellungskuratoren, Konferenzveranstalter usw.) zu einem bedeutungsvollen Ganzen verarbeiten.
Sie können offensichtlicher, global signifikanter Natur sein, zum Beispiel zehn Tage, die die Welt erschütterten (John Reed über die Oktoberrevolution) oder acht Tage, die die Welt veränderten (Alfred Weinzierl und Klaus Wiegrefe über Deutschland 1989/ 90). Oder auch nur ein einziger Tag: In zehn Jahren wird das Vierteljahrhundert seit 9/11 zum Großthema werden; oder, in der Popkultur, the day the music died (als am 3. 2. 1959 ein Flugzeug mit Buddy Holly und anderen damaligen Musikstars abstürzte).
Es kann auch ein Jahr sein, das einem nicht gleich einfallen würde; ein Jahr, in dem sich Unterschiedliches, mehr oder weniger Auffälliges, Katastrophales wie Hoffnungsvolles ereignet hat; Ereignisse, die es einem Autor wert scheinen, zu einem signifikanten Ganzen aufbereitet zu werden.
Nehmen wir das eingangs genannte 1956. Der britische Amerikanist Simon Hall schildert es chronologisch. Im Winter des Jahres bestand Martin Luther King seine erste politische Feuerprobe – und überlebte einen Brandanschlag auf sein Wohnhaus in Montgomery, Alabama –, als die Afroamerikaner des Ortes die öffentliche Busse wegen der Rassentrennung boykottierten. Auf der anderen Seite des Ozeans spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen Algeriern und ihren französischen Kolonialherren zu, Auftakt zu einem jahrelangen, grausamen Krieg. Und in Moskau, hielt Chruschtschow seine später berühmt gewordene Geheimrede, eine erste Abrechnung mit dem Stalinismus.
Im Frühjahr 1956 gab es deutliche Reaktionen auf diese Rede in den „Bruderländern“des Ostblocks. In Polen kam es aufgrund der schlimmen Versorgungslage zu Streiks und einem Aufstand in Poznań. In Afrika und auf Zypern trat der Widerstand gegen die britische Herrschaft in wichtige Phasen. In Ungarn wuchs, ebenfalls durch die Hoffnung auf ein Ende des Stalinismus angefeuert, die Opposition gegen die Diktatur der Kommunistischen Partei.
Im Mutterland des Imperialismus diagnostizierte Landsmann Hall eine ganz andere Protestwelle, die der „angry youg men“, gegen die verkalkte britische Gesellschaft, mit Rock ’n’ Roll als Soundtrack und mit dem gerade enorm populären Elvis Presley als Identifikationsfigur.
Zugleich – Hall malt ein symphonisches Panorama der globalen Ereignisse – weist Nasser in Ägypten die Briten in ihre Schranken: Die Suez-Krise wird als Serie von Fehlkalkulationen geschildert, sie war für die Engländer emotional so nahe wie der Ungarnaufstand später im selben Jahr für die Österreicher.
Wind der Freiheit
In seiner Darstellung der „world in revolt“schließt Simon Hall den Marsch der südafrikanischen Frauen gegen die Apartheid ein und den Beginn der Guerilla von Fidel Castro gegen das Regime in Havanna, die drei Jahre später siegreich enden sollte. Auch der Krieg in Vietnam nahm gewissermaßen 1956 seinen Anfang, als die USA die Ausbildung der dortigen Soldaten übernahmen.
Hall zeigt, dass die disparaten Ereignisse in jenem Jahr gemeinsame Nenner hatten. Der „kühne Wind der Freiheit“wehte Bundesgenossen zueinander, er erschütterte überkommene Herrschaftssysteme, auch wenn sie noch jahrelang Bestand haben sollten.
Die Ereignisse waren der Anfang vom Ende der Fifties, wie sie zumindest im Westen als stabiles, US-hegemoniales Jahrzehnt in der Erinnerung verklärt werden sollten.
Der deutsche Musik- und Literaturkritiker Frank Schäfer hat mit seinem Buch 1966 ganz anderes vor. Die Welt sei damals reif gewesen für kulturelle Umschwünge. Die Ruhe vor dem Sturm. Erste Explosionen. Ein „1966-Gefühl“habe sich global ausgebreitet wie eine Schockwelle.
Schäfer konzentriert sich darauf, was diese Welle in der Popkultur ausgelöst hat, wo sie Dämme überflutet hat, wo sie versandet ist. Drogen, Rock-Musik, die Szene an der Westküste, schrittweises Aufbegehren in West- und Ostdeutschland, die monatlichen Hitparaden auf beiden Seiten des Ozeans, die Gruppe 47 in Princeton, der „Frankfurter-Schule-Philosoph Ludwig Marcuse“(spätestens das Lektorat hätte ihn zum Herbert verbessern sollen) über
Playboy, die verspätete Lektüre Wilhelm Reichs – das alles gerät zu einem bunten Durcheinander, welches belegen soll, dass „die Welt“(sagen wir: Teile der Ersten Welt) einen Bewusstseinsschub durchgemacht hat.
Eine bemüht lockere Sprache soll dieser Veränderung entsprechen. Immer wieder ist man angefixt, verarscht, durchgeknallt, aufgedreht oder ausgeschlafen. Im Übrigen ist sich der Autor selbst nicht sicher, ob gerade das Jahr 1966 (sein Geburtsjahr) der beste Zeitraum für seine These ist.
Schon im Vorwort räumt er ein, dass der von ihm beschriebene Wandel auch 1965 oder 1967 ähnlich diagnostiziert werden könnte.
Warum dann überhaupt die Verdichtung der Ereignisse in Jahrbüchern und Jubiläumsritualen? Offenbar deshalb, weil sie uns Orientierung geben sollen, im besten Fall uns die im Nebel der Vergangenheit verschleierten Ereignisse neu ordnen und einschätzen helfen.
Für den Historiker Friedrich Öhl versuchen sie eine Deutung für die Gegenwart oder eine Korrektur der Erinnerungskultur. Es kann aber auch, schreibt er, „postmoderne Beliebigkeit oder missverstandene ‚political correctness‘ dazu führen, möglichst viele Gedenkjahre zu verkünden, um nur ja nicht den Fehler des Nicht-Gedenkens zu begehen“.
In der nächsten Zeit werden die runden Jubiläen jedenfalls nicht abreißen: Russische Revolution, Ende des Ersten Weltkriegs, Erste Republik, Räterepubliken. Zugleich werden die Veteranen von 1968 zu Wort kommen. Auch wenn das historische Gedächtnis immer kürzer und löchriger wird, leben wir in einer Ära ständiger Rückbezüge. Die Lektüre wird uns nicht ausgehen.
Simon Hall, „1956, Welt im Aufstand“. € 25,70 / 480 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart 2016
Frank Schäfer, „1966 – Das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsein erweiterte“. € 19,90 / 200 Seiten, Residenz, Salzburg Wien 2016