Andrea Maria Dusl: Wie man im Sommer am schönsten versandet
Sommer und Strand gehören von jeher zusammen, und Strand und Zerstreuung gingen immer schon eine unauflösliche Verbindung ein. Hitzige Anmerkungen zwischen Meeresschaum und Sonnenöl. ESSAY:
Wer von uns könnte ihn je vergessen? Den ersten Sommer am Strand. Wer denkt nicht voll Wehmut an bunte Liegestühle und ausgeblichene Schirme, an die Schatten hinter den Badehäuschen, an nimmermüde Melonenverkäufer und an brennheißen Hochsommersand? Dem zweiten Sommer folgte ein dritter, und irgendwann haben wir zu zählen aufgehört. Alle Sommer am Strand verschmolzen zu einem Kontinuum, zu „dem“Sommer am Strand. Und der Strand war nicht nur Sommer, er war auch Musik. Haben wir nicht alle Azzurro von Adriano Celentano im Ohr, Ti amo von Umberto Tozzi oder die Sommerhitseuche Macarena?
Wer weiß nicht, wie es war, erstmals unbekannte Muscheln aus den Schaumzungen der Wellenzipfel zu fischen, dampfende Pasta asciutta in der Touristentrattoria zu wickeln und abends am Corso radebrechend Stracciatella con Nocciola zu bestellen? Un cono per favore! Oder Fragola con Limone? Oder eine Aranciata mit Strohhalm leerzusaugen? Unvergessen.
Wer erinnert sich nicht an eine Kindheit, deren hartes Los aus Luftmatratzenaufpumpen bestand, aus Sandburgenbauen und aus dem ungleichen Kampf zwischen Sonnenöl und roter Haut?
Warum tun wir uns das an?
Wer teilt nicht die Expertise, auf Zehenspitzen im flachen Salzwasser stehend die Wellen auszuwippen, wenn sie kühl und unerbittlich, trockene und sonnenwarme Partien des Badekörpers benetzend, reif machen fürs erste Eintauchen, jenen magischen Moment der Meerwerdung, der Vereinigung von Sehnsucht, Furcht und Wirklichkeit. Wer kennt die Gedanken nicht, die durch Körper und Seele taumeln, diesen Moment bis ins Lächerliche zu dehnen, sich der Unausweichlichkeit der Submersion schließlich in titanenhafter Mutanstrengung auszuliefern.
Wer kennt nicht das Prickeln händisch aufgewirbelten Meeresschaums, den Geschmack salziger Lippen, die Logistik hinter dem schwimmenden Unterfangen, Seegras auszuweichen oder verdächtigen Schaumbläschen.
Wieder in die Sicherheit des sandigen Strandlandes zurückgekehrt – wer hat nicht den Geruch staubtrockener Krimiseiten verinnerlicht, in der prallen Mittagssonne als Schattenwedel aufs Gesicht gelegt? Wer kennt nicht das olfaktorische Amalgam aus salzignasser Badekleidung, der vanilligen Süße klebriger Sonnenmilch und den dünnen Schwaden einer irgendwo eilig abgebrannten Strandzigarette. Verborgen im Wind, im anonymen Wald der Schirme.
Der Urlaub am Strand gehört zum kollektiven Gedächtnis Österreichs, das Italien der Strände zu den prägenden Erfahrungen der Nation. Auch wenn es andere Ferienmodelle gibt, den Aufenthalt in den Bergen etwa, die Reisen in den kühlenden Norden, oder abweichende Strategien der Litoralritualistik – den Meeresurlaub in Kroatien, Iberien, der Türkei und in ferneren Destinationen: Der Urlaub am südlichen Sandstrand ist das Ideal. Wie kamen wir dazu, und wie sieht es aus? Wie real ist das Ideal?
Warum tun wir uns das an? In der Hitze in der Sonne zu liegen? Weil wir es nicht anders gelernt haben.
Woher kommt der Urlaub am Strand? Wie viele andere Segnungen des Kapitalismus wurden die Ferien im Sand im Mutterland unsere Hegemonialideologie erfunden: in England. Als Geschäftsmodell. Der Strandurlaub gilt als Weiterentwicklung der Gesundheitsmodelle traditioneller Badekurorte. Den salinen Augustfluten wurden prophylaktische Kräfte zugesprochen, in der Exposition der Haut gegenüber der Sonne erkannte man Rachitisvorbeugung, frische Meeresluft kurierte lädierte Stadtlungen.
Erste, vorrangig von der Aristokratie besuchte Seebäder gab es schon um 1720 in den NorthYorkshire-Städtchen Whitby und Scarborough. Dort hatte sich, in Zusammenhang mit einer Heilquelle, schon im 17. Jahrhundert ein angesehener Kurbetrieb entwickelt. Das touristische Potenzial der Imperialmetropole Londons nutzten schließlich die südenglischen Bäder Brighton, Margate, and Weymouth. Die Vergnügungsindustrie, längst in den Kurorten und Bädern Europas eta- bliert, fand auch hier beste Bedingungen. Strand und Zerstreuung gingen eine unauflösliche Verbindung ein. Zumindest in kommerzieller Hinsicht. Piers und Vergnügungsparks, Hotelstädte und Gatronomie-Cluster wucherten hinter den Stränden, aufgefädelt an einer zentralen Achse, der Promenade. Der Strand, die Brandung und das Wolkentheater stillte die romantischen Sehnsüchte des Publikums nach friedlicher Urgewalt und unverbastelter Natur. Wie alles am Theater war und ist aber auch der Strand ein Kunstprodukt.
Das Baden am Strand selbst, genauer das Eintauchen ins Wasser, sei es schwimmend oder gehend, folgte noch lange Zeit viktorianischen Etiketten, die weitgehend von körperfeindlicher Prüderie und modischen Normen der Verhüllung bestimmt waren. Um der Sehnsucht nach dem Bad mit Förmlichkeit zu begegnen, bediente man sich sogenannten Bathing Machines. Die fahrenden Badehäuschen, um das Jahr 1735 erfunden, waren großrädrige Wagen, meist von Pferden ins bade-
tiefe Wasser gezogen. Im Inneren der fensterlosen Karre zogen sich die Badegäste um. Sobald die mobile Mietkabane ins Wasser gezogen war, stiegen die Badegäste, in hochgeschlossene Ballonkleider gewandet, auf einer kleinen Holztreppe ins Meer.
Die Liebe der Engländer für den Strand war mit der Entwicklung des europäischen Eisenbahnnetzes nach Europa exportiert worden. Die sonnenhungrige und vergnügungssüchtige britische Oberschicht hatte da schon längst die französische Riviera und die Mittelmeerstrände entdeckt. Nicht zuletzt wegen der laxeren Vorstellungen Kontinentaleuropas, das Glücksspiel und die Nacktheit betreffend. Monte Carlo ist das prominenteste Beispiel auf dem Gebiet der ludischen Extreme, der mallorquinische Ballermann (eigentlich: „Balneario Nº 6“, Spanisch für „Heilbad“) nur einer von vielen tragischen Endpunkten in der Evolution des Strands als Glücksinstitut.
Zeitlose Gigolos
War es im 19. Jahrhundert die Eisenbahn, die Sandstrände als touristische Destination erschloss, diente dazu im 20. das Flugzeug. Von den englischen Beaches ausgehend zog das Konzept nach Kontinentaleuropa und etablierte sich in der Folge weltweit. Scarborough und Brighton liegen jetzt auf den Malediven und auf Ko Samui.
Betrachten wir den Strand aus mitteleuropäischer Perspektive. Die allerersten heimischen Strandurlauber waren schwindsüchtige Töchter und frauenleidende Gattinnen, tuberkulose Söhnchen und frischlufthungrige Mätressen. Die Strandurlaube der österreichisch-ungarischen Oberschicht hatten Heilcharakter und waren in der Regel vom Medikus verordnet. Sie linderten etabliertes Leiden oder suchten solchem vorzubeugen. Die österreichischen Strandkurorte eiferten den großen Vorbildern an der Côte d’Azur und deren Publikum nach und orientierten sich an der Strandpromenierlust der zaristischen Aristokratie und des englischen Adels.
Die Weltkriege unterbrachen die meisten familiären Urlaubstraditionen. Die gutbürgerliche Sehnsucht nach dem oberadriatischen Meer aber blieb lebendig und verband sich schließlich, verstärkt und überholt von den Italienüberfällen der deutschen Wirtschaftswunderkinder, zu einem deutsch-österreichischen Adriafimmel. Die Arbeiterfamilien der Kreisky-Ära waren liquide und mobil. Bibione und Caorle waren ihr Ziel.
Auch wenn die österreichische Durchschnittsfamilie mittlerweile in Griechenland und Mallorca, im Indischen Ozean und im Roten Meer planscht, das Maß aller österreichischen Litoralfantasien wird stets der Urlaub am oberadriatischen Badestrand sein, jener sandigen Kunstküste, die von schattig-heißen Pinienwäldern in ein flaches und friedliches Kleinmeer läuft. Der Himmel? Azzurro. Con gelato.
Wie sieht das genau aus? Was macht den Strand zum Strand?
Drei Elemente konstituieren ihn. Sand, Meer, Wind. Der Sand muss fein sein und trocken, das Meer sauber und friedlich, der Wind sanft und stetig. Auch die Tätigkeiten, die uns der Strand auferlegt, sind dreifältig elementar: liegen, ins Wasser gehen, schwimmen. Obschon wir uns dem Phantasma hingeben, hier Verhältnisse radikaler Naturnähe zu erleben, sorgt eine ausgeklügelte Bewirtschaftung für diese Bedingungen. Nichts am Strand ist Natur, alles ist künstlich. Was aussieht, als hätte es das Meer in Jahrmillionen kreativer Romantikarbeit herangeschoben, wurde mit schwerer Technik planiert oder von weither mit dem Lastwagen herangekarrt. Von dort, wo es das Meer (und meistens ein Fluss) tatsächlich abgelagert hat.
Der Strand ist an das Funktionieren einer etablierten Logistik gebunden und symbolhaft personalisiert in braungebrannten Ferialhelden, die sich als Schirmspanner und Liegenwarte verdingen und dabei das Charisma allzeitbereiter Gigolos abstrahlen. Rettungsschwimmer und Badewarte tragen Spiegelbrillen und sind aus ähnlichem Athletenholz geschnitzt. Sie retten Leben im trügerischen Wasser. Auch im flachen. Der Tod lauert hier überall. Wenn niemand stirbt, sitzen sie am Ende der Piers und dröhnen sich mit Strandmucke aus dem Handy zu.
Das Meer selbst ist in Resten lebendig, aber nicht künstlich wie Strand und Pier, es zeigt seinen Charakter in Ebbe und Flut und in seiner vom Wind gestalteten Oberfläche – Wellen genannt. Die Natur des Meeres offenbart sich, in dem es weitere Natur anschwemmt. Im besten Falle sind das die schleimigen Karkassen der Quallen, die toten Körper kleiner Krabben und das allgegenwärtige Seegras. Vor der Strandöffnung kommt der Bagger und räumt auf. Das eine oder andere Schäufelchen, die eine oder andere Sandkuchenform ist da auch dabei. Bisweilen ein Kanister. Verkippter Plastikscheiß vorbeituckernder Yachten. Und die leeren Joints der illegalen Strandschläfer. Der Wind ist nur ein Besucher. In der Regel kommt er vom Meer. Nichts anderes sollte man sich wünschen. Zu nahe sind Pizzerias, Grillstationen und die örtliche Kanalisation.
Teures Strandhäuschen
Blauer Himmel, sauberes Meer, eine leichte Brise sind das Ideal. Dann wird der Strand zu einem Sehnsuchtsort und kann uns fortbringen. Überall hin. Ist doch der Strand jener Sehnsuchtsort, der sich nicht selbst erzählt, sondern ausschließlich die Sehnsucht nach anderen Orten bedient. Zur Produktion dieser Sehnsüchte dient die Lektüre. Das Strandbuch. Der Urlaubswälzer. Dafür braucht es einen steten Ort: die Strandliege. Sie soll beschattet sein vom übergroßen Schirm und, bequem mit dem Strandtuch gepolstert, stundenlanges Lesen ermöglichen. Elektrolesern wird am Strand längst ein dichtes WLAN-Netz bereitgestellt.
Der bewirtschaftete Strand bildet territorial betrachtet eine Klassengesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts ab, modetechnisch und infrastrukturell orientiert er sich an egalitären Strukturen der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre.
Die territoriale Komponente des Strandes ist auf radikale Minimalismen zurückgeworfen. Als zugewiesenes Zuhause am Strand kann die Strandhütte fungieren, die Mietliege mit Schirm oder das schlichte Tuch im Sand. Der soziale Rang manifestiert sich in einer dieser drei Möglichkeiten. Als erste Klasse dürfen sich Dauermieter eines teuren Strandhäuschens verstehen (Letztere bilden in Form und Größe die Aufbauten der Strandkarren des 18. Jahrhunderts nach). Als Angehörige der Mittelklasse gelten Tagesleiher zweier Liegen unter einem zentralen Schirm. Die Unterschicht der Strandgäste leistet schlicht den Tageseintritt und darf am Vorstrand, der Brandung schon nahe, ein Handtuch auflegen oder am Pier sitzen – auf Planken oder verwittertem Beton.
Platzfragen mögen ans Theater erinnern und haben dort wohl auch ihren Ursprung. Je besser die Sicht auf die Bühne ist, desto höher sind die Preise. Die Bühne, das zeigen diese Verhältnisse, ist die Zone vor den Schirmreihen. Das Niemandsland zwischen Land und Meer, die Brandungsstirn, das anlaufende Meer, der Horizont und seine Qualität als Theater der Navigation: In der Ferne ziehen Containerschiffe und Kreuzfahrtriesen vorbei, davor präsentieren sich Yachten und geringere Kähne. Die Staffage bilden die Badenden.
Modetechnisch ist der Strand, entsexualisierte Zone sexualisierter Verhältnisse, tatsächlich egalitär konstituiert. Die gängige Bademode lässt nur binäre Entscheidungen zu, und diese bilden keine Klassendistinktionen ab: Badeanzug oder Bikini, Slip oder Short, uni oder geblümt, neu oder Vintage. Über die tatsächlichen sozialen Verhältnisse erzählen indes die somatischen Konditionen, der Gang, die Haltung und der Grad der Tattooisierung. Der Grad der Nacktheit, der heute als etabliert gilt, hat einen seltenen, aber tödlichen Begleiter: das Melanom.
Ein Antagonist der Direttissima zwischen Strandliege und Meer (der vorherrschenden Bewegung an einem Strand) ist der Strandspaziergang. Er kann zwei Ziele haben, beide dienen dem Stoffwechsel. Der nächstgelegene Duschpavillon erlaubt es, sanitären Bedürfnissen auf mitteleuropäischem Niveau nachzugeben, sich allenfalls umzuziehen oder in der Fußrinne Hände, Füße und versalzte Badekleidung süßzuwaschen. Die anderen Destinationen sind Strandbar oder Strandcafé. Ihre Namen bezeichnen ihre Funktion. Die erste bedient alkoholische, die zweite nichtalkoholische Bedürfnisse.
Der ideale Strand ist breit und lockt zu Horizontalerkundung. Der Strandspaziergang gilt als moderne Zerstreuung, verweist aber auf eine alte Funktion flacher Küstenabschnitte: Hier wird und wurde Material angelandet, das sogenannte Strandgut. Besonders nach Stürmen trugen Wind und Wellen die Überreste gekenterter oder gesunkener Schiffe an Land. Eine gutgehütete Technik vornehmlich englischer Strandgemeinden bestand darin, mit Lampen die Leuchtfeuer weit entfernter Leuchttürmen oder die Schiffsbeleuchtungen nicht vorhandener Schiffe zu imitieren und behufs dieser Methodik Schiffe gezielt stranden oder an Riffen zerschellen zu lassen. Der Strandspaziergang mitsamt der Üblichkeit, dabei seltsam geformtes Holz, schöngemusterte Steine und allerlei Muschelzeug aufzulesen, ist ein Echo auf eine alte Kulturtechnik strandnaher Küstenbewohner.
Ein Antagonist der Direttissima zwischen Strandliege und Meer (der vorherrschenden Bewegung am Strand) ist der Strandspaziergang. Er kann zwei Ziele haben ...
Das Ende des Geheimtipps
Störungen am Strand sind üblich und durchaus willkommen und werden von einer Vielzahl von Vaganten vorgenommen. In der Reihenfolge ihrer Beliebtheit sind das ein Verkäufer wassergekühlter Kokosspießchen, der vielgerühmte Cocobellomann mit seinem Cocobellorap, sodann der tunesische Handtuchverkäufer („Kofen, kofen, Hantuch, Hantuch“), der zentralasiatische Masseur, der ägyptische Schundliteraturdealer, der subsahranische Kettenhändler und der traurigste in dieser Reihe, der rumänische Kochlöffelverkäufer. Wenn die Carabinieri ihren Rundgang machen, sind sie alle weg.
Die hier beschriebenen Prospektierungen eines Strandes teilen nicht alle. In der Sehnsucht nach dem idealen Strand, dem einsamen, dem perfekten, dem naturbelassenen, unverfälschten, haben Aussteiger und Suchende diesen und alle anderen Kontinente bereist. Wurden sie fündig, mussten sie ihre Erlebnisse der Absolutheit strändischen Erlebens dem Dämon der Verschwiegenheit opfern. Jeder Verrat galt als Ende des Geheimtipps. Nicht wenige fanden den Strand fürs Leben. Und blieben dort. Für immer.
Der ideale Strand, das bleibe nicht unverhehlt, ist jener, der Sehnsüchte nicht verbraucht. Der Strand, will er dem Ideal dienen, kann und muss wieder verlassen werden, um diesen Sehnsüchten Raum zu geben. Und sei es jene Sehnsucht, die ganz anderen Orten gilt. Der Strand kann uns dort hinführen.
Manche sagen: Nur der Strand kann das.
Andrea Maria Dusl ALBUM Mag. Mia Eidlhuber (Redaktionsleitung) E-Mail: album@derStandard.at