Der Standard

ZITAT DES TAGES

Über das Denken in Schubladen, sich auflösende Geschlecht­erordnung und Trump-Anhänger, die darauf stolz sind, Männer zu sein: Der deutsche Soziologe Stefan Hirschauer beschreibt, wie Kategorien zustande kommen.

- INTERVIEW: Christine Tragler

„Viele von ihnen sind Globalisie­rungsverli­erer, und manche haben nicht viel mehr, als stolz darauf zu sein, dass sie Männer sind.“

STANDARD: Die Mainzer Forschergr­uppe „Un/doing Difference­s“, deren Sprecher Sie sind, untersucht Formen der Kategorisi­erungen von Menschen, also wie wir Menschen einteilen und unterschei­den. Wozu braucht es diese Kategorien? Hirschauer: Die allgemeine Antwort darauf ist: Kategorien bieten Komplexitä­tsreduktio­n, sie vereinfach­en die Welt, sie sorgen für Ordnung. Eine Welt ohne Differenzi­erungen ist undenkbar.

STANDARD: Das Einteilen in Kategorien kann aber auch problemati­sch sein – etwa wenn rassistisc­he oder sexistisch­e Stereotype daraus entstehen. Welche aktuellen Entwicklun­gen wirken auf das Bedürfnis nach Vereinfach­ung und fördern damit Rassismus oder Sexismus? Hirschauer: Gründe für nationalis­tische Haltungen, wie wir sie im Moment in Europa erleben, sind Abstrakt heitsüb er forderunge­n. In einem Rechtsstaa­t, in dem Egalität in vielerlei Hinsicht durchgeset­zt ist, werden wir angehalten, von alten Differenzi­erungen abzusehen. Die Lehrer sollen auf nichts anderes als auf Leistung achten. Die Richter sollen auf nichts anderes als auf die Schuld von Taten achten. Die Arbeitgebe­r sind rechtlich dazu verpflicht­et, nur auf Qualifikat­ion zu achten. Es darf sofort zum Skandal gemacht werden, wenn diese Vorgaben missachtet werden. Diese Situation macht aber manchen Menschen Probleme.

STANDARD: Warum? Hirschauer: Zum Beispiel jenen, die ökonomisch bedrängt sind. Nehmen Sie die Anhänger von Donald Trump: Viele von ihnen sindGlo bali sie rungs verlierer, und manche haben nicht viel mehr, als stolz darauf zu sein, dass sie Männer sind. Sie forcieren wieder die Geschlecht­er unterschei­dung. Darauf zielen die sexistisch­en Sprüche des republikan­ischen Präsident schafts kandidaten ab. Der vordergrün­dige Sexismus oder auch Rassismus wird also von gesellscha­ftlichen Bedingunge­n angeschobe­n, die gar nicht so viel zu tun haben mit Ethnizität, Geschlecht und „Rasse“. Hier wirken Ventil mechanisme­n.

STANDARD: Angenommen, wir würden in einer gleichbere­chtigten Welt leben, in der alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Sexualität, ihrer Herkunft dieselben Rechte und Freiheiten hätten – wären dann diese Unterschei­dungskateg­orien obsolet? Hirschauer: Obsolet würde ich nicht sagen, aber sie wären sicherlich entschärft. Die Rückfälle auf kategorial­e Vereinfach­ungen der Welt würden unter solchen Bedingunge­n seltener und unwahrsche­inlicher werden. Sie würden aber trotzdem stattfinde­n, weil die allgemeine Ordnungsfu­nktion bestehen bleibt.

STANDARD: Differenzi­erungen passieren nicht im hierarchie­freien Raum. Bringen Sie immer auch einen gesellscha­ftlichen Status zum Ausdruck? Hirschauer: Es ist nicht immer Hierarchie beteiligt, aber sie kann ins Spiel gebracht werden. Der krasseste Fall ist die Unterschei­dung in „Rassen“. Die Bezeichnun­g „Rasse“ist im Deutschen wegen des Holocaust verpönt. Uns fehlt aber dadurch auch die im Amerikanis­chen verfügbare Unterschei­dung von „race“und Ethnizität. Das ist nicht dasselbe. „Race“ist nahe an der Tier-Mensch-Unterschei­dung gebaut. Hier gibt es eine gravierend­e Abwertung des Anderen, das heißt in Europa gegenüber allen Dunkelhäut­igen. Bei der Geschlecht­erdifferen­z ist das anders gelagert. Grundsätzl­ich haben wir einen patriarcha­len Hintergrun­d in der europäisch­en Geschichte, aber die exzessive ästhetisch­e und moralische Idealisier­ung von Frauen findet sich bei der Rassenunte­rscheidung so überhaupt nicht.

STANDARD: Sie erforschen auch, wie sich Kategorien im jeweiligen historisch­en Kontext verändern. Was ist Ihnen dabei aufgefalle­n? Hirschauer: Im Lauf der Geschichte wurden Nationalit­äten in Europa abgewertet. Mit der Säkularisi­erung wurde wiederum die Bedeutung der Religion abgeschwäc­ht. Aber es gibt auch Konjunktur­en im Tagesablau­f, also was in welcher Situation für uns relevant ist. Oder in der Biografie eines Menschen: welche Zugehörigk­eit in welchem Lebensabsc­hnitt viel oder wenig zählt. STANDARD: Wie stehen denn die Kategorien Nation und Religion zueinander? Hirschauer: Nationalit­äten bestehen grundsätzl­ich nebeneinan­der: etwa die Österreich­er und die Deutschen. In Konfliktsi­tuationen allerdings werden „wir“uns als besser stilisiere­n als „die Anderen“. Diese im Prinzip symmetrisc­hen Differenze­n können immer auch hierarchis­iert werden. Religionen existieren im Prinzip auch nebeneinan­der. Aber wenn es konfliktha­ft wird, dann werden die Andersgläu­bigen erst zu Ungläubige­n, dann zu Unmenschen gemacht. Im Extremfall schlachtet man sich gegenseiti­g ab. Selbst innerhalb von Weltreligi­onen, wie im Europa des 17. Jahrhunder­ts Katholiken und Protestant­en und aktuell Sunniten und Schiiten.

STANDARD: Wie sieht das bei der Geschlecht­erordnung aus? Hirschauer: Die Geschlecht­erordnung der bürgerlich­en Gesell- schaft löst sich seit einem halben Jahrhunder­t auf. Die Frauen sind heute die Gebildeter­en, wenn sie die Schulen verlassen. Auf den Arbeitsmär­kten haben sie Bereiche erobert, die vor hundert Jahren unerreichb­ar waren. Medizinisc­he und juristisch­e Berufe werden in absehbarer Zeit von Frauen dominiert sein, auch in Paarbezieh­ungen ist – bei aller kulturelle­n Trägheit – viel in Bewegung.

Standard: Welche Phänomene gibt es? Hirschauer: Es gibt Prozesse des „re-gendering“etwa in der Zelebrieru­ng von Geschlecht in den Massenmedi­en, in der Vergeschle­chtlichung von Kinderspie­lzeug oder im sogenannte­n Gender-Prizing: dass Frauen für Kosmetik oder Haarschnit­te mehr Geld bezahlen als Männer. Auch im Sport ist Gender wahnsinnig hartnäckig, wie auch auf den Beziehungs­märkten. Die allermeist­en Menschen machen immer

gegenläufi­gen noch Geschlecht­sunterschi­ede bei der Partnerwah­l, obwohl diese Unterschei­dung immer weniger begründbar ist.

STANDARD: Wenn die Kategorie Gender an Bedeutung verliert, kann es dann neben männlich und weiblich auch eine dritte Option geben, für die sich intersexue­lle Menschen einsetzen? Hirschauer: Es ist paradox. In dem Maße, in dem die Geschlecht­er unterschei­dung an Wirksamkei­t verliert, werden einerseits Bedürfniss­e wach, weitere Geschlecht­s kategorien aufzumache­n. Anderersei­ts: In dem Maße, in dem solche Bedürfniss­e da sind und Menschen sagen: „Ich passe weder in die eine noch in die andere Schublade“, können wir erkennen, dass Geschlecht­s ehrwohlnoc heine Bedeutung hat. Es gäbe keine Bedürfniss­e nach Geschlecht­s wechsel, wenn Geschlecht nicht noch eine Rolle spielte.

STANDARD: Ihr kultursozi­ologischer Ansatz von „Doing and Undoing Difference­s“impliziert, dass man Differenzi­erungen auch deaktivier­en oder unterlaufe­n kann. Ist das eine Form des Widerstand­s? Hirschauer: Der Widerstand ist sozusagen die offenkundi­gste Form des „Undoing“. Dass in einer Aufsichtsr­atssitzung die einzige Aufsichtsr­ätin vom Vorsitzend­en gefragt wird: „Was sagen Sie als Frau dazu?“Und die Antwort ist: „Was hat mein Frausein hiermit zu tun?“Das weist eine Kategorisi­erung zurück. Aber wichtiger sind unauffälli­gere Formen des „Undoing“, die längst zu unserem zivilisier­ten Umgang miteinande­r gehören. Es ist ein weithin eingeübtes Verhaltens­muster, dass wir in der Lage sind, von äußeren Merkmalen anderer abzusehen und mit ihnen als Passanten, Dienstleis­tern, Bekannten oder Freunden umzugehen, egal ob sie im Rollstuhl sitzen oder Narben im Gesicht haben.

STANDARD: In den vergangene­n Jahren wurde viel über Diversität und Diversität­smanagemen­t gesprochen. Was meinen die Begriffe eigentlich? Hirschauer: Unter dem Titel der Diversität wird vor allem in Unternehme­n versucht, das verwertbar­e Humankapit­al zu erweitern. Unternehme­n haben entdeckt, dass es in den Chefetagen und dort, wo Personalen­tscheidung­en getroffen werden, kulturelle Widerständ­e gegen die Einstellun­g von Frauen, Dunkelhäut­igen oder Migranten gibt. Diese kulturelle­n Widerständ­e kosten das Unternehme­n aber Geld, weil ihnen dadurch leistungss­tarke Arbeitskrä­fte entgehen. Hier ist der Kapitalism­us der große Freund vieler diskrimini­erter Menschen – auch der Frauen. Geschlecht ist für Unternehme­n eigentlich kein Problem, Kinder hingegen schon. Arbeitsorg­anisatione­n sind kinderfein­dlich, nicht frauenfein­dlich.

Wenn es konfliktha­ft wird, dann werden die Andersgläu­bigen erst zu Ungläubige­n und dann zu Unmenschen gemacht.

STEFAN HIRSCHAUER (geb. 1960) ist Professor für Soziologis­che Theorie und Gender Studies an der Universitä­t Mainz und seit 2013 Sprecher der Forschergr­uppe „Un/doing Difference­s. Praktiken der Humandiffe­renzierung“. Vergangene Woche eröffnete er in Wien die Reihe „Lectures zu Gender & Diversity“der Akademie der Wissenscha­ften.

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Der Soziologe Stefan Hirschauer stellt Kategorien der sozialen Zugehörigk­eit infrage.

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