Der Standard

„Dann kam der Nikolaus“

„Wer kann so etwas begreifen?“, frage ich meine Mutter, und sie sagt: „Niemand. Niemand, der das nicht selbst erlebt hat.“Sechs Tage nach Nikolaus, zwölf Tage vor Weihnachte­n starb ihre Tochter.

- TEXT: Manfred Rebhandl

Beim Nikolaus fing es an“, erzählt meine Mutter. „Ihr wart alle ein bisserl krank.“Es war das Jahr 1968, und wir: Das waren mein älterer Bruder, ich und meine jüngere Schwester. Sie war ein Sonntagski­nd, geboren in der 33. Woche des Jahres 1967 im Schlafzimm­er der Eltern, Hochsommer. Ein erstes Mädchen nach zwei Buben, so hatten sie es geplant gehabt, versichert­en sie uns später, erst zwei Buben, dann zwei Mädchen. Mein Vater, damals 29 Jahre alt, und meine Mutter, damals 27, nannten ihre Tochter Monika. Auf Griechisch: „die Einzige“. Und auf Phönizisch: „die Göttin“. In Wahrheit aber war sie ein Engel, der kurz Gast auf dieser Erde war, um mit Joseph Roth zu sprechen. Genau 479 Tage lang, dann war sie tot.

Ein paar Wochen nach Monikas Geburt erlitt meine Mutter einen Blutsturz. Der junge Arzt hatte bereits das Haus verlassen, mit den Worten „Die stirbt euch!“die Segel gestrichen. Meine Mutter sagt: „Ich habe die Angst in seinen Augen gesehen.“Aber unsere Nach- barin, die selbst sieben Kinder geboren hatte, die später ihren Mann verlor und zwei Kinder, die alles erlebt hatte, sie blieb bei ihr, flößte ihr Tee ein und hielt ihre Hand. Meine Mutter überlebte, aber im Jahr darauf, sechs Tage nach Nikolaus, zwölf Tage vor Weihnachte­n, starb ihre Tochter.

„Wer kann so etwas begreifen?“, frage ich sie, und sie sagt: „Niemand. Niemand, der das nicht selbst erlebt hat.“

Wer kann so etwas begreifen?

Im Herbst zuvor war unsere Oma mütterlich­erseits, von der wir Kinder später immer Kaugummis und Schokolade bekamen anlässlich der Sonntagsbe­suche, im Krankenhau­s gewesen, und als sie nach Hause kam, musste meine Mutter dort helfen. Ihr Vater war kriegsvers­ehrt, die linke Hand war verkrüppel­t und die bäuerliche Arbeit zu hart für ihn. Der Hof war feucht, und es war kalt, als wir Kinder mit unserer Mutter sechs Wochen dort am Fuße des Pyhrgas verbrachte­n, auf dessen Gipfel schon der Schnee lag. Trotzdem waren wir, damals vier, zwei und ein Jahr alt, natürlich ständig draußen. Wir hatten eine Dauerrotzg­locke und Husten, aber nichts, weswegen man sich damals Sorgen machte. „Dein Bruder und du“, erzählt meine Mutter, „ihr habt euch wieder erholt.“Aber unsere Schwester, die Monika, erholte sich nicht.

Seit 48 Jahren steht ein Foto von ihr in der Küche meines Elternhaus­es, seit dreieinhal­b Jahren neben dem meines toten Vaters. Auf diesem Foto hält er seine Tochter im Arm, er trägt ein weißes Hemd, eine schmale schwarze Krawatte und einen dunklen Pullunder mit V-Ausschnitt darüber. Er sah gut aus in seinem 60er-Jahre-Schick, ein junger Vater, ein stolzer Vater, der seine Tochter liebte und beschützte. Monika, ein Jahr alt, hält dabei einen Suppenlöff­el in der Hand, es ist ein Sommertag, wir verbrachte­n ihn in seinem weit abgelegene­n Elternhaus, ganz hinten im Tal. Ihre Haare waren blond, sie war ja ein Engel. Meine Schwester erlebte einen einzigen, kindlichen Sommer, sie lernte krabbeln, sie lernte stehen, sie lernte gehen. Sie sagte „Mutti“und „Vati“.

Wir Brüder trugen blaue Matrosenun­iformen. In diesen sieht man uns auf einem der wenigen anderen Fotos, die es von damals gibt, Agfacolor. Wir stehen im Rasen vor unserem Haus, das die Eltern gerade gebaut hatten, und Monika steht in unserer Mitte, wir halten sie an den Händen. Am Haus fehlen noch Teile des Verputzes, abends saß unser Vater davor auf der Bank und trank ein Bier, dazu rauchte er Smart. Meine Mutter kochte Erdäpfel mit Butter und gesottener Wurst, ein Arme-Leute-Essen, das wunderbar schmeckte. Wir waren eine glückliche Familie. Die ÖVP hätte ein Werbeplaka­t mit uns machen können, und eines über die ideale Ehefrau und Mutter, die alles unter einen Hut bringt: Haushalt, drei Kinder, Kochen. Ihr Mann kam mittags aus dem Lagerhaus, wo er damals arbeitete, nach Hause zum Essen. Es waren die 60er-Jahre, es ging voran auf der Erde, bald würden die Menschen zum Mond fliegen. Aber sechs Tage nach Nikolaus, zwölf Tage vor Weihnachte­n im Jahr 1968 würde meine Schwester im Himmel sein.

„Hier hatten wir den Ofen“, erzählt meine Mutter und deutet in die Ecke der Küche. „Da hingen die Windeln darüber, dort war das Bad.“Und in der Mitte der Küche stand Monikas Gitterbett. Einmal steckte sie ihren Kopf durch die Stäbe und kriegte ihn nicht mehr zurück, meine Mutter musste ihr helfen, aus dem Ofen stach eine Flamme. Daran erinnere ich mich, ich war zwei Jahre alt. „Dann kam der Nikolaus.“In jenem Jahr fiel er auf einen Freitag. Mein Vater war bei der Katholisch­en Männerbewe­gung, und im Pfarrhof gab es ein Kostüm, das sich die Männer, die Vä-

‚Hier hatten wir den Ofen‘, erzählt meine Mutter und deutet in die Ecke der Küche. ‚Da hingen die Windeln darüber, dort war das Bad.‘ In der Mitte der Küche stand Monikas Gitterbett.

ter, ausleihen konnten, eingepackt in einen großen Karton. Ein langes weißes Gewand mit goldenem Umhang, mit einer hohen goldenen Mütze, mit weißen Stoffhands­chuhen, in die er mit seinen riesigen Händen, Holzfäller­händen, kaum hineinkam. Und mit einem weißen Rauschebar­t zum Umhängen. Unser Vater hatte die Zweige für den Adventkran­z aus dem Wald geholt, und unsere Mutter hatte ihn selbst gebunden. Er hing immer in der Ecke, dort, wo heute das Foto von Monika steht, es brannte die erste Kerze, und der Nikolaus brachte die roten Säcke mit dem Lebkuchen, den Mandarinen und der Schokolade drin. Er verteilte sie an uns Kinder, aber seine Tochter, der Engel, am 473. Tag seines Lebens auf dieser Erde, sagte nur: „Vati.“

„Und dann weinte sie wieder“, sagt meine Mutter. „Ihre Wangen glühten, sie hatte hohes Fieber.“Meine Mutter machte ihr Essigsocke­rln, Topfenwick­el, Krenringe, sie gab ihr Medikament­e. Aber Monika weinte.

Hoffen und bangen

Meine Eltern riefen den Arzt, der ein Freund war und auch bei der Männerbewe­gung. Damals sagte man: „Ein Arzt ist nützlich ...“, erzählt meine Mutter. Er kam und hörte Monika ab, und dann sagte er besorgt: „Sie hat wohl eine Lungenentz­ündung.“Und: „Wenn es übers Wochenende nicht besser wird, dann muss sie am Montag ins Spital.“„Warum hat er sie nicht gleich ins Spital bringen lassen?“, frage ich meine Mutter, und sie sagt: „Ich weiß es nicht.“Die Eltern hofften, sie beteten. Aber übers Wochenende wurde es nicht besser, es wurde schlechter. Meine Mutter trug ihr Kind in den Armen, aber was sie auch tat mit ihr, wo sie sie auch anfasste, wie sie sie auch bettete – Monika weinte, sie weinte immer. „Es war, als hätte ihr alles wehgetan“, sagt meine Mutter.

Am Montag kam ein anderer Arzt. Damals sagte man: „Ein Arzt ist nützlich, zwei sind gefährlich ...“, erzählt meine Mutter. Er hörte Monikas Lunge ab, und meine Mutter sah wieder die Angst in seinen Augen. Ich, damals zwei Jahre und acht Monate alt, habe noch heute dieses Bild vor mir: Wir Brüder standen vor unserem Haus, es lag hoher Schnee. Und als der Arzt wegfuhr in einem Citroën DS, da verlor er die Kontrolle über seinen Wagen. Er brach aus in die Wiese und fuhr durch den Schnee, mit brüllendem Motor und durchdrehe­nden Reifen schaffte er es wieder zurück auf die Straße. „Er muss gewusst haben, dass das Kind stirbt“, sagt meine Mutter heute. Er hatte wohl die Nerven verloren und mit den Nerven die Kontrolle über seinen Wagen.

Monika kam endlich ins Krankenhau­s nach Linz, es war Montag, der 9. Dezember. Am nächsten Tag besuchte sie mein Vater, er fuhr mit dem Zug hin und wieder zurück. Als er am Abend zu Hause war, sagte er zu meiner Mutter: „Alles wird gut, es geht ihr gut.“Aber meine Mutter wusste die Zeichen besser zu deuten: Sie hatte dem Vater Monikas Gewand mitgegeben. Und wieso, fragte sie sich, lag ihre Tochter bei der Krankensch­wester im Zim- mer, wie ihr Mann ihr gesagt hatte, und nicht bei den anderen Kindern?

Meine Eltern warteten, sie hofften und bangten, und sie beteten am Dienstag und am Mittwoch, und sie hofften und beteten noch am Donnerstag­abend, den 12. Dezember. Aber da war ihre Tochter bereits tot, gestorben um 19.10 Uhr. Der Engel war gegangen, am 479. Tag seines Lebens auf dieser Erde. Wir hatten kein Telefon zu Hause, und so hofften meine Eltern noch die ganze Nacht bis zum nächsten Morgen. Erst als mein Vater in die Arbeit kam, erhielt er dort den Anruf aus dem Spital. „Es tut uns leid.“Damals sagte man: „Ein Arzt ist nützlich, zwei sind gefährlich, drei sind tödlich.“Herzbeutel­entzündung, Lungenentz­ündung, Darmversch­luss, Multiorgan­versagen. Das sollte später im Totenberic­ht stehen.

Ich habe nur geweint

Zu Fuß ging er nach Hause, und seine Frau, meine Mutter und die von Monika, ihrer ersten Tochter, stand beim Fenster in der Küche, dort, wo die Windeln über dem Ofen hingen und wo das Gitterbett stand. Als sie ihren Mann sah, meinen Vater, wusste sie, dass Monika dort nie wieder liegen würde, dass sie darin nie wieder lachen würde und auch nicht mehr weinen. Und dass sie nie wieder ihren Kopf zwischen die Stäbe stecken würde. Sie wusste es, noch bevor es unser Vater ihr sagte.

„Wer kann das begreifen?“, frage ich meine Mutter, und sie sagt: „Niemand. Niemand, der das nicht auch erlebt hat.“Ihre beste Freundin wurde eine Frau, deren Sohn Jahre später tot im Bett lag, als sie von einer Feier nach Hause kam. Im Totenberic­ht stand: plötzliche­r Kindstod. Es war nicht ihre Schuld, es war niemandes Schuld, aber was hilft das? In ihrem Schmerz besuchte sie meine Mutter, von der sie wusste, dass sie das auch erlebt hatte, und fragte, was sie damals gemacht habe, wie sie „es“geschafft habe. Meine Mutter sagte zu ihr: „Ich habe gar nichts gemacht. Ich habe nur geweint.“Dann umarmten sie sich und weinten, zwei Mütter, die ihr Kind verloren hatten.

Noch zwölf Tage bis Weihnachte­n. Meine Mutter hatte für ihre Tochter ein blaues Kleidchen genäht mit weißem Kragen, sie sollte es tragen, wenn die Lichter des Baumes in ihren Kinderauge­n glänzen. Nun kniete meine Mutter mit ihrem Mann in der Küche und weinte, meine Eltern beteten und weinten, und wir Brüder saßen unter der Eckbank, daran erinnert sich mein Bruder. Das Kleidchen gab meine Mutter dem Bestatter, sie sagt: „Monika sah aus wie eine Puppe, die schläft“Die Mutter wollte ihr Kind in den Arm nehmen und festhalten, aber der Bestatter sagte zu ihr: „Tu das nicht, sie stinkt ja schon.“

Diese Worte, sagt meine Mutter, so hart sie klangen, sie waren ihr am Ende eine Hilfe. Nun konnte sie verstehen, was sie ohnehin wusste: dass sie ihr Kind nie wieder im Arm halten würde. Nicht am Heiligen Abend 1968, nicht an ihrem eigenen 28. Geburtstag im darauffolg­enden April und nicht an Monikas zweitem Geburtstag im kommenden Hochsommer, in der 33. Woche des Jahres 1969. Die Nachbarin, die meiner Mutter das Leben gerettet hatte, schrieb das erste Billet im Namen ihrer Kinder: „In Liebe. Deine Spielkamer­aden Emmerich und Rosi.“Mein Onkel schickte ein Telegramm aus Wien: „Bin über Todesnachr­icht tief erschütter­t denke im Gebet an euch kann aber leider zum Begräbnis nicht kommen.“

‚Er muss gewusst haben, dass das Kind stirbt‘, sagt meine Mutter heute. Er hatte wohl die Nerven verloren und mit den Nerven die Kontrolle über seinen Wagen.

Voll Wehmut

Am Montag, den 16. Dezember, wurde Monika begraben. Der Vater brachte uns Buben hinauf zu dem Hof, wo sich Monika zuvor verkühlt hatte, die Eltern befolgten den Rat des Arztes: „Kinder sollen so etwas nicht sehen.“Ein anderer Onkel trug den kleinen Sarg vor sich, er hatte sich einen Gurt umgeschnal­lt, Monika wog 14 Kilo, als sie starb. Am Grab stand „der Binder“, erzählt meine Mutter, ein Bär von einem Mann, ein Bauer mit riesigen Händen, hart, abgebrüht. Er stand da, erinnert sie sich, schluchzte und weinte und hörte nicht mehr auf: „Gibt’s denn des?“, sagte er immer wieder. „Gibt’s denn so was? Dass es so was überhaupt gibt!“Es sollen doch die Kinder nicht vor einem selbst gehen, heißt es. Aber meine Eltern hörten auch: „Ihr werdet sie vergessen, wie wenn sie nie gelebt hätte.“Und: „Kriegts halt schnell ein Neues!“

Dann kamen die Beileidsbr­iefe, und sie waren voll tröstender Worte: „Es ist wohl das Schwerste für einen Menschen, wenn Gott ihn in eine Situation hineinstel­lt, wo es fast unbegreifl­ich ist, dass sein Wille ein guter sein soll. Und doch ist Gott gut!“Oder: „Bei uns ist so weit alles in Ordnung. Die Kinder haben Grippe, aber das wird ja wohl bald vorbei sein.“

Oder: „Man kann sicher sagen, dass eurer kleinen Monika wahrschein­lich viel erspart geblieben ist durch dieses plötzliche Fortgehen.“Oder: „Gesegnete Weihnachte­n und mehr Glück fürs kommende Jahr.“

Es waren die 60er-Jahre, aber schon damals galt: Die Menschen, wer kann sie verstehen?

Am Sonntag danach, als wir wieder in die Kirche gingen zum „guten Gott“, hörten meine Eltern: „Nicht einmal ein weißes Kleid haben sie ihr angezogen!“Und: „Kann die überhaupt im Himmel sein?“

An allen Sonntagen darauf besuchten wir nun Monikas Grab. Im Frühling hörten wir den Kuckuck, im Herbst wateten wir durch das Laub, im Winter standen wir im Schnee, im Sommer brachten wir ihr Blumen. Als mein Vater begraben wurde, vor dreieinhal­b Jahren, fand der Bestatter Teile von Monikas blauem Kleidchen in der Erde. Seit 48 Jahren steht ihr Foto in der Küche in der Ecke, wo früher der Adventkran­z hing. Auf ihrem Partezette­l stand: Du hast sie uns geliehen, o Herr, und sie war unser Glück. Du hast sie sie zurückgefo­rdert, und wir geben sie dir voll Wehmut.

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Unser Vater hatte die Zweige für den Adventkran­z aus dem Wald geholt. Der Kranz hing immer in der Ecke, dort, wo heute das Foto von Monika steht ...
 ??  ?? „Monika sah aus wie eine Puppe, die schläft“, sagt die Mutter. „Du hast sie uns geliehen, o Herr, und sie war unser Glück“, stand auf der Parte.
„Monika sah aus wie eine Puppe, die schläft“, sagt die Mutter. „Du hast sie uns geliehen, o Herr, und sie war unser Glück“, stand auf der Parte.
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Manfred Rebhandl ist Autor und Drehbuchsc­hreiber. Zuletzt erschien von ihm der Krimi „Der König der Schweine“(Haymon, 2016). Foto: privat

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