Wenn Lehrer den Mittelschulunterricht stören
Ein bildungswissenschaftliches Projekt der FH Wiener Neustadt untersuchte Irritationen, die vom Lehr(er)körper ausgehen
Graz / Wiener Neustadt – Wenn von Störungen des Unterrichts die Rede ist, werden diese meist aus der Lehrerperspektive in Zusammenhang mit disziplinären Schwierigkeiten von Schülern verhandelt. Und es ist auch völlig unbestritten, dass es Lehrer heute beträchtlich schwerer haben als noch vor einigen Jahrzehnten. Längst sind sie keine unhinterfragten Autoritätspersonen mehr; die Zahl der „verhaltenskreativen“Schüler nimmt zu, ebenso die in die Schule mitgebrachten sozialen und sprachlichen Probleme. Dass damit ein beachtliches Störpotenzial verbunden ist, liegt auf der Hand.
Die Bildungswissenschafterin und Logopädin Doris Muhr von der Fachhochschule Wiener Neustadt hat für ihre wissenschaftliche Arbeit über „Unterrichtsstörungen im Rahmen schulischer Interaktion an Neuen Mittelschulen“dennoch jene Gruppe befragt, die in Theorie und Praxis eher als Störer denn als Gestörte in Erscheinung tritt. Wodurch also fühlen sich Schüler und Schülerinnen im Unterrichtsalltag gestört?
Verbale Irritationen
Es ist eine bemerkenswerte Liste, die Muhr aus narrativen Interviews mit Schülern und Videoaufzeichnungen von Unterrichtshandlungen herausgefiltert und analysiert hat. „Unterrichtsstörungen zeigen sich als vielfältige verbale und nonverbale Phänomene im schulischen kommu- nikativen Handeln“, so Doris Muhr. „In meiner Studie habe ich sie in die Kategorien ‚Ablenkung‘, ‚Abwendung‘ und ‚Provokation‘ gegliedert.“
Was bei den Schülern aus deren Sicht für Ablenkung sorgen kann, sind zum Beispiel Stimme und Sprechart eines Lehrers: „Ist die Stimme besonders schrill, wird darauf oft unbewusst der Fokus gelenkt“, so Muhr. „Auch zu schnelles und undeutliches Sprechen vermindern die Konzentration auf den Inhalt des Gesagten.“
Besonders unangenehm fällt den Schülern auf, wenn Lehrer zwar zu ihnen sprechen, sich dabei jedoch abwenden – beim Fenster hinausschauen oder Papiere ordnen. Insbesondere das in den Neuen Mittelschulen (NMS) praktizierte Teamteaching bereitet auch den Schülern oft Probleme: Wenn sich zum Beispiel die Lehrer im Klassenzimmer miteinander unterhalten, während sich die Kinder still beschäftigen oder Prüfungen schreiben müssen.
„Die Schüler nehmen es auch als Störung wahr, wenn zwei Lehrer nicht miteinander arbeiten können“, hat Doris Muhr beobachtet. Da sich die Lehrer oft nicht aussuchen können, mit wem sie zusammenarbeiten, sei das ein weitverbreitetes Problem, das mitunter auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werde. „Oft koordinieren sich die Lehrer nach Ansicht der Kinder zu wenig, sodass der eine nicht weiß, was der ande- re schon oder noch nicht getan oder angeordnet hat.“
Ein Störmoment seien auch häufige, oft unangekündigte Lehrerwechsel: „Die Kinder müssen sich dabei immer wieder auf eine neue Persönlichkeit mit einem anderen Unterrichtsstil einstellen, was ebenfalls die Konzentration vom Inhaltlichen abzieht.“
Ablenkende Lehrerkörper
Irritation kann übrigens auch vom Lehrerkörper ausgehen: So wird zu schnelles und rastloses Umherwandern im Klassenzimmer als ebenso ablenkend wahrgenommen wie zu große physische Nähe. „Vielen Schülern ist es unangenehm, wenn sich ein Lehrer oder eine Lehrerin von hinten über sie beugt, sich an ihren Tisch lehnt oder sich gar darauf setzt“, hat Doris Muhr herausgefunden. „Die Kinder empfinden das als unpassend und als Eindringen in ihren persönlichen Bereich.“Zu dieser persönlichen Zone zählen sie auch ihre Utensilien, die ihrer Meinung nach für Lehrer tabu sein sollten.
Besonders Mädchen achten zudem sehr kritisch auf die Kleidung ihrer Lehrerinnen und Lehrer. Ist ein Ausschnitt zu tief oder lugt nackte Haut zwischen Hose und Hemd oder Bluse hervor, wird das durchaus als unangenehme Ablenkung wahrgenommen. „Mädchen identifizieren sich aber auch gerne mit ‚ihrer‘ Lehrerin, wenn das ‚Angebot‘ stimmt“, so Muhr.
Auch mangelnder Respekt sorge immer wieder für massive Störungen in der schulischen Kom- munikation. Während noch in den 1970er-Jahren verbale Demütigungen und Beleidigungen durch Lehrer als ziemlich normal oder zumindest schicksalhaft hingenommen wurden, hat sich der Umgangston in den Klassenzimmern zumindest in dieser Hinsicht mittlerweile im Großen und Ganzen gemäßigt. Dennoch werden Schüler oft mehr als unhöflich behandelt, wie Muhr beobachten konnte.
Im Affekt geäußerte Beschimpfungen wie „Du bist ja blöd“oder „Aus dir wird ohnehin nichts“wirken sich nachhaltig störend auf die Lehrer-Schüler-Interaktion aus. „Eigentlich gehen die meisten Schüler recht gerne in die Schule und möchten auch gute Leistungen bringen“, so Muhr. „Aber sie wollen, dass die von ihnen einzuhaltenden Regeln für alle, auch für die Lehrer gelten.“
Trotzdem: Selbst wenn sich alle Seiten ehrlich bemühen, gehören Störungen zum ganz normalen Schulalltag. „Man sollte sich allerdings bewusst sein, dass sie nicht immer nur von den Schülern ausgehen“, betont die Bildungswissenschafterin. „Auf diesen Aspekt der schulischen Interaktion ist man in der Lehreraus- und -weiterbildung bislang kaum eingegangen.“Vor allem das Teamteaching in den NMS müsse besser trainiert werden. „Leider werden Lehrer in Österreich noch immer zu Einzelkämpfern herangebildet.“Die in konsequenter Folge oft mehr als holprigen Paarlaufversuche können deshalb oft nicht den erwarteten Nutzen entfalten.