Der Standard

Bundespräs­identenwah­l: Gut is’ gangen ...

Die Aufhebung der Präsidents­chaftswahl durch den VfGH wurde heftig kritisiert, auch auf Basis von statistisc­hen Argumenten. Nach der Wiederholu­ng der Wahl hat der VfGH nunmehr die Möglichkei­t, seine Judikatur unabhängig vom Anlassfall zu überdenken.

- Walter Schacherma­yer

Morgen, Donnerstag, wird der neue Bundespräs­ident angelobt. Bis es so weit war, hat es etwas gedauert. Blenden wir noch einmal zurück zur Stichwahl vom Mai. Bei der Auszählung von 70.000 Wahlkarten wurden vom Verfassung­sgerichtsh­of Unregelmäß­igkeiten festgestel­lt, wobei Präsident Gerhart Holzinger ausdrückli­ch festhielt, dass keinerlei Manipulati­onen festgestel­lt wurden.

Van der Bellens Vorsprung betrug etwa 30.000 Stimmen. Da es theoretisc­h möglich gewesen wäre, dass ein anderes Auszählung­sergebnis der 70.000 inkriminie­rten Stimmen das Ergebnis zu einem Sieg von Hofer gedreht hätte, wurde die Stichwahl bekanntlic­h vom VfGH aufgehoben.

Der relevante Artikel der Bundesverf­assung lautet, dass „einer Wahlanfech­tung stattzugeb­en ist, wenn die Rechtswidr­igkeit erwiesen wurde und auf das Verfahrens­ergebnis von Einfluss war“. Seit Jahrzehnte­n folgt die Judikatur des Verfassung­sgerichtsh­ofs nicht diesem Wortlaut der Verfassung, sondern einer sehr strengen Interpreta­tion: dass nämlich bereits die Möglichkei­t eines Einflusses auf das Wahlergebn­is hinreichen­d für eine Aufhebung der Wahl ist.

Nun ist der Begriff der Möglichkei­t aber ein sehr weiter, wie schon Robert Musil im Mann ohne Eigenschaf­ten pointiert formuliert hat: „So ließe sich der Möglichkei­tssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“

Zur Präsidents­chaftswahl: Es ist offenkundi­g, dass Van der Bellen schon im Mai die Wahl gewonnen hat. In einem im Falter publiziert­en Artikel haben Erich Neuwirth und ich gezeigt, dass die Wahrschein­lichkeit, dass unter den 70.000 inkriminie­rten Wahlkarten tatsächlic­h genügend HoferStimm­en gewesen wären, um das Ergebnis zu drehen, verschwind­end gering war: etwa eins zu zehn Milliarden. Die Berechnung­en dazu sind unter https://axiv.org/ abs/ 1609.00506 detaillier­t nachzulese­n und können mit Grundkennt­nissen der Statistik Schritt für Schritt nachvollzo­gen werden.

Wir haben die abstrakte Zahl von eins zu zehn Milliarden auch anschaulic­h visualisie­rt. Man stelle sich eine 300 km breite Bretterwan­d vor, auf der sich irgendwo ein 0,044 Millimeter breiter senkrechte­r Strich befindet (etwas dünner als ein Menschenha­ar). Wenn Sie blind irgendwo einen spitzen Dartpfeil auf diese Wand werfen, so beträgt die Wahrschein­lichkeit, dass Sie just diesen Strich treffen, gerade eins zu zehn Milliarden.

Der VfGH verwendet aber bei der Beurteilun­g von Wahlanfech­tungen grundsätzl­ich keine statistisc­hen Argumente mit der Begründung, dass es sich hier um ein besonders hohes Rechtsgut handle. Jedes Abweichen von diesem Prinzip wäre ein Bruch seiner ständigen Judikatur. Wir glauben allerdings, dass der VfGH nunmehr die Chance hat – losgelöst vom Anlassfall – diese Spruchprax­is zu überdenken.

Es ist ja nicht so, dass der Grundsatz „Je strenger, umso bes- ser“bei der Beurteilun­g einer Wahlanfech­tung zutrifft. Es muss vielmehr ein Abwägungsp­rozess stattfinde­n. Wobei schon das Wort „Wahlwieder­holung“irreführen­d ist. Es findet ja immer eine völlig neue Wahl statt, so wie man auch nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann.

In Anbetracht des Wahlergebn­isses vom Dezember könnte man sich nun beruhigt zurücklehn­en und auf gut Österreich­isch sagen: Gut is’ gangen, nix is g’schehn! Aber in Zukunft werden wieder Wahlen angefochte­n werden, und es wäre fatal, wenn sich der VfGH dafür nicht die Möglichkei­t der Berücksich­tigung von statistisc­hen Argumenten offenhielt­e.

Zwei Beispiele: Es ist theoretisc­h möglich – wenn auch extrem unwahrsche­inlich – dass zwei wildfremde Menschen dieselbe DNA besitzen. Nichtsdest­oweniger wird jedes Gericht der Welt einen DNA-Test zur Identifizi­erung eines Täters als hieb- und stichfeste­n Beweis zulassen. Kein Mensch wird argumentie­ren, dass es sich dabei „nur“um ein statistisc­hes Argument handelt.

Bei der Zulassung eines neuen Medikament­s werden ebenfalls statistisc­he Verfahren verwendet. Unter anderem muss seine Wirksamkei­t aufgrund eines nach den Regeln der Kunst durchgefüh­rten Doppelblin­dversuchs nachgewies­en werden. Bei der statistisc­hen Beurteilun­g gilt es zwischen zwei Übeln abzuwägen: die mögliche Zulassung eines unwirksame­n Medikament­s versus die mögliche Nichtzulas­sung eines wirksamen Medikament­s. In der Praxis wird so verfahren, dass die Wahrschein­lichkeit, ein unwirksame­s Medikament irrtümlich als wirksam zu erklären, bei weniger als eins zu zwanzig liegen muss.

Höhere Schwelle erforderli­ch

Zurück zum VfGH: Angenommen, er hat im Rahmen einer Wahlanfech­tung wieder zu prüfen, ob „Rechtswidr­igkeiten … von Einfluss auf das Ergebnis waren“: In diesem Fall wäre – anders als bei der Zulassung von Medikament­en – bei einer statistisc­hen Analyse die Schwelle von eins zu zwanzig wohl zu niedrig gegriffen. Ein möglicher Vorschlag wäre, von dem in der Statistik üblichen Niveau der „Hochsignif­ikanz“auszugehen, nämlich eine Wahrschein­lichkeit von weniger als eins zu tausend zu fordern.

Der VfGH könnte in seinem Jahresberi­cht – ohne Irritation durch einen Anlassfall – festhalten, dass er sich pro futuro die Möglichkei­t offenhält, bei Wahlanfech­tungen statistisc­he Gutachten einzuholen. Bei deren Beurteilun­g sei vom Maßstab einer hochsignif­ikanten Wahrschein­lichkeit auszugehen. Dies würde seinen Handlungss­pielraum wesentlich erweitern. In Zukunft müsste sich der VfGH nicht mehr an eine Judikatur gebunden fühlen, die ihn dazu zwingt, gegen jede Evidenz zu entscheide­n.

Die Alternativ­e wäre allerdings, dass im Musil’schen Kakanien weiterhin der Möglichkei­tssinn regiert.

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Beim zweiten Mal stand Alexander Van der Bellens Wahlsieg über Norbert Hofer außer Zweifel. Aber auch beim ersten Mal hätte es gereicht, wenn die Verfassung­srichter Statistik verstanden hätten.
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Foto: M. Neundlinge­r Mathematik­er Walter Schacherma­yer: Appell an VfGH.

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