Bundespräsidentenwahl: Gut is’ gangen ...
Die Aufhebung der Präsidentschaftswahl durch den VfGH wurde heftig kritisiert, auch auf Basis von statistischen Argumenten. Nach der Wiederholung der Wahl hat der VfGH nunmehr die Möglichkeit, seine Judikatur unabhängig vom Anlassfall zu überdenken.
Morgen, Donnerstag, wird der neue Bundespräsident angelobt. Bis es so weit war, hat es etwas gedauert. Blenden wir noch einmal zurück zur Stichwahl vom Mai. Bei der Auszählung von 70.000 Wahlkarten wurden vom Verfassungsgerichtshof Unregelmäßigkeiten festgestellt, wobei Präsident Gerhart Holzinger ausdrücklich festhielt, dass keinerlei Manipulationen festgestellt wurden.
Van der Bellens Vorsprung betrug etwa 30.000 Stimmen. Da es theoretisch möglich gewesen wäre, dass ein anderes Auszählungsergebnis der 70.000 inkriminierten Stimmen das Ergebnis zu einem Sieg von Hofer gedreht hätte, wurde die Stichwahl bekanntlich vom VfGH aufgehoben.
Der relevante Artikel der Bundesverfassung lautet, dass „einer Wahlanfechtung stattzugeben ist, wenn die Rechtswidrigkeit erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war“. Seit Jahrzehnten folgt die Judikatur des Verfassungsgerichtshofs nicht diesem Wortlaut der Verfassung, sondern einer sehr strengen Interpretation: dass nämlich bereits die Möglichkeit eines Einflusses auf das Wahlergebnis hinreichend für eine Aufhebung der Wahl ist.
Nun ist der Begriff der Möglichkeit aber ein sehr weiter, wie schon Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften pointiert formuliert hat: „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“
Zur Präsidentschaftswahl: Es ist offenkundig, dass Van der Bellen schon im Mai die Wahl gewonnen hat. In einem im Falter publizierten Artikel haben Erich Neuwirth und ich gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass unter den 70.000 inkriminierten Wahlkarten tatsächlich genügend HoferStimmen gewesen wären, um das Ergebnis zu drehen, verschwindend gering war: etwa eins zu zehn Milliarden. Die Berechnungen dazu sind unter https://axiv.org/ abs/ 1609.00506 detailliert nachzulesen und können mit Grundkenntnissen der Statistik Schritt für Schritt nachvollzogen werden.
Wir haben die abstrakte Zahl von eins zu zehn Milliarden auch anschaulich visualisiert. Man stelle sich eine 300 km breite Bretterwand vor, auf der sich irgendwo ein 0,044 Millimeter breiter senkrechter Strich befindet (etwas dünner als ein Menschenhaar). Wenn Sie blind irgendwo einen spitzen Dartpfeil auf diese Wand werfen, so beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass Sie just diesen Strich treffen, gerade eins zu zehn Milliarden.
Der VfGH verwendet aber bei der Beurteilung von Wahlanfechtungen grundsätzlich keine statistischen Argumente mit der Begründung, dass es sich hier um ein besonders hohes Rechtsgut handle. Jedes Abweichen von diesem Prinzip wäre ein Bruch seiner ständigen Judikatur. Wir glauben allerdings, dass der VfGH nunmehr die Chance hat – losgelöst vom Anlassfall – diese Spruchpraxis zu überdenken.
Es ist ja nicht so, dass der Grundsatz „Je strenger, umso bes- ser“bei der Beurteilung einer Wahlanfechtung zutrifft. Es muss vielmehr ein Abwägungsprozess stattfinden. Wobei schon das Wort „Wahlwiederholung“irreführend ist. Es findet ja immer eine völlig neue Wahl statt, so wie man auch nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann.
In Anbetracht des Wahlergebnisses vom Dezember könnte man sich nun beruhigt zurücklehnen und auf gut Österreichisch sagen: Gut is’ gangen, nix is g’schehn! Aber in Zukunft werden wieder Wahlen angefochten werden, und es wäre fatal, wenn sich der VfGH dafür nicht die Möglichkeit der Berücksichtigung von statistischen Argumenten offenhielte.
Zwei Beispiele: Es ist theoretisch möglich – wenn auch extrem unwahrscheinlich – dass zwei wildfremde Menschen dieselbe DNA besitzen. Nichtsdestoweniger wird jedes Gericht der Welt einen DNA-Test zur Identifizierung eines Täters als hieb- und stichfesten Beweis zulassen. Kein Mensch wird argumentieren, dass es sich dabei „nur“um ein statistisches Argument handelt.
Bei der Zulassung eines neuen Medikaments werden ebenfalls statistische Verfahren verwendet. Unter anderem muss seine Wirksamkeit aufgrund eines nach den Regeln der Kunst durchgeführten Doppelblindversuchs nachgewiesen werden. Bei der statistischen Beurteilung gilt es zwischen zwei Übeln abzuwägen: die mögliche Zulassung eines unwirksamen Medikaments versus die mögliche Nichtzulassung eines wirksamen Medikaments. In der Praxis wird so verfahren, dass die Wahrscheinlichkeit, ein unwirksames Medikament irrtümlich als wirksam zu erklären, bei weniger als eins zu zwanzig liegen muss.
Höhere Schwelle erforderlich
Zurück zum VfGH: Angenommen, er hat im Rahmen einer Wahlanfechtung wieder zu prüfen, ob „Rechtswidrigkeiten … von Einfluss auf das Ergebnis waren“: In diesem Fall wäre – anders als bei der Zulassung von Medikamenten – bei einer statistischen Analyse die Schwelle von eins zu zwanzig wohl zu niedrig gegriffen. Ein möglicher Vorschlag wäre, von dem in der Statistik üblichen Niveau der „Hochsignifikanz“auszugehen, nämlich eine Wahrscheinlichkeit von weniger als eins zu tausend zu fordern.
Der VfGH könnte in seinem Jahresbericht – ohne Irritation durch einen Anlassfall – festhalten, dass er sich pro futuro die Möglichkeit offenhält, bei Wahlanfechtungen statistische Gutachten einzuholen. Bei deren Beurteilung sei vom Maßstab einer hochsignifikanten Wahrscheinlichkeit auszugehen. Dies würde seinen Handlungsspielraum wesentlich erweitern. In Zukunft müsste sich der VfGH nicht mehr an eine Judikatur gebunden fühlen, die ihn dazu zwingt, gegen jede Evidenz zu entscheiden.
Die Alternative wäre allerdings, dass im Musil’schen Kakanien weiterhin der Möglichkeitssinn regiert.