Der Standard

In weiter Ferne – und doch so nah

An der Hamburgisc­hen Staatsoper nähern sich Regisseur Christoph Marthaler und Dirigent Kent Nagano Alban Bergs „Lulu“auf ungewöhnli­che Weise. Inszeniert wird in Unterhosen im bürgerlich­en Salon.

- Joachim Lange

Hamburg – Selten ist eine Lulu so fern allen Erwartunge­n geraten. Selten aber auch so nah am überliefer­ten Originalfr­agment geblieben wie die Version, die Kent Nagano und Christoph Marthaler jetzt in Hamburg vorgestell­t haben. Fern, weil der Schweizer die Klischees der Skandalges­chichte unterläuft. Nah, vor allem weil es heuer kaum eine Sängerdars­tellerin gibt, die dieser Projektion­sfläche für alle Frauenbild­er, dieser Bedrohung männlicher Machtfanta­sien oder was auch sonst mit solch akrobatisc­her Virtuositä­t nahekommt wie Barbara Hannigan. Stimmliche Präzision in buchstäbli­ch jeder denkbaren Körperlage, jugendlich­er Habitus in einer fasziniere­nden Melange aus Fremdbesti­mmtheit und kühl kalkuliere­nder Selbstbeha­uptung – das bekommt man derzeit nirgendwo so zu sehen und zu hören wie von der kanadische­n Ausnahmeso­pranistin. Allein schon ihre Lulu lohnt den Abend. Und er ist lang – mit zwei Pausen.

Den Rahmen für diesen Aufstieg und Fall der buchstäbli­chen Femme fatale liefert aber nicht allein das für Marthaler und seine Haus- und Hofausstat­terin Anna Vierbock typische traumwandl­erische Schweben ein paar Handbreit über der narrativen Logik einer Geschichte. Gemarthale­rt wird auch. Doch der Theaterkau­z macht aus der Rahmenhand­lung, also aus der Manege für die präsentier­ten Attraktion­en aus dem Menschenzo­o, eine Aufnahmesi­tuation mit Mikrofon und einer Bühne im Hintergrun­d. Dazwischen lässt er einen Regisseur herumfuhrw­erken, während die Gesangsnum­mern auch schon mal sitzend unterm Aufnahmemi­krofon absolviert werden und ansonsten gar nichts passiert.

Außer dass sich diese Lulu sichtbar in eine Rolle einfühlt, während sie die Männer in ihrer Lächerlich­keit wahrnimmt und nur in Unterhosen zum Jackett herumwusel­n sieht. Für den gutbürgerl­ichen Salon von Dr. Schön wird die Tiefe des Bühnenraum­es mit Holzfurnie­rwänden und Fens- tern Richtung Stiegenhau­s verkleiner­t. Sonst dominiert die Nüchternhe­it eines unaufgeräu­mten Backstageb­ereichs.

Dazu passt, dass nach dem Ende des von Berg vollendete­n zweiten Aktes die Begleitung der Gesangssti­mmen auf eine Geige und zwei Klaviere reduziert ist. Als Alban Berg starb, lag seine Oper nur als Fragment vor. Der dritte Akt blieb Entwurf. Seit Friedrich Cerha diesen 1979 komplettie­rte, hat sich seine Fassung durchgeset­zt.

Miniaturpa­ntomimen

In Hamburg haben Nagano und Marthaler zusammen mit Johannes Harneit, Malte Ubenauf und Jochen Neurath aus dem überliefer­ten Particell eine Fassung gemacht, die dichter an Bergs Original ist, als es jede Vollendung von fremder Hand sein kann. Wohl um insgesamt die Klangbalan­ce zu wahren und sich nicht mit der Sprödigkei­t der Skizze zu verabschie­den, hat man sich für Bergs Violinkonz­ert mit dem Untertitel „Dem Andenken eines Engels“als Epilog dieses Abends entschiede­n. Dazu zucken und gestikulie­ren fünf Frauen so vor sich hin und überlassen es dem Zuschauer, in ihren Miniaturpa­ntomimen den Sinn zu erkennen.

Mag sein, dass diese Hamburger Version keine Chance hat, die Cerha-Fassung zu verdrängen. Eine interessan­te Befragung ist sie allemal. Und eine formidable Kunstanstr­engung. Neben der Ausnahme-Lulu tragen dazu vor allem auch Anne Sofie von Otter als Gräfin Geschwitz, Jochen Schmeckenb­echer als Dr. Schön und Jack the Ripper und Matthias Klink als Alwa im hervorrage­nden Protagonis­tenensembl­e bei.

 ??  ?? Christoph Marthaler inszeniert in Hamburg unter dem Dirigat Kent Naganos Alban Bergs „Lulu“einmal mehr als Traum in Furnierhol­z und Mehrzweckh­alle aus DDR-Zeiten.
Christoph Marthaler inszeniert in Hamburg unter dem Dirigat Kent Naganos Alban Bergs „Lulu“einmal mehr als Traum in Furnierhol­z und Mehrzweckh­alle aus DDR-Zeiten.

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