Der Standard

Lücken im Familienbe­ihilfe- Gutachten

Das Gutachten, auf dessen Basis die ÖVP die Familienbe­ihilfe für im EU-Ausland lebende Kinder kürzen will, ignoriert die Judikatur des EuGH, die eine solche Indexierun­g als Verletzung der Grundfreih­eiten sieht.

- Franz Marhold

Wien – Alles schon da gewesen: Die Kürzung der Familienbe­ihilfe für im Ausland lebende Kinder nach dem Leistungsn­iveau des Wohnorts war schon einmal Bestandtei­l des Europäisch­en Sozialrech­ts: § 73 Abs 2 der VO Nr 1408/71 alte Fassung gewährte Frankreich dieses Privileg. In der Rs Pinna I hat der Europäisch­e Gerichtsho­f diese Regelung als mit EU-Recht unvereinba­r verworfen. Dazu führt der EuGH aus, dass das EU-Sozialrech­t materielle Unterschie­de zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit unberührt lasse, und es gestatte des Weiteren nicht, Unterschie­de einzuführe­n. Durch die Bemessung der Leistung nach dem Leistungsn­iveau des Wohnortes des Kindes werde der Gleichbeha­ndlungsgru­ndsatz verletzt, falls Berechtigt­e für in anderen Mitgliedss­taaten wohnende Kinder geringere Leistungen als für die im zuständige­n Staat wohnenden Kinder erhielten.

Im vom Finanzmini­ster beauftragt­en Gutachten von Wolfgang Mazal lesen wir von dieser maßgebende­n Entscheidu­ng nichts. Dabei hält EuGH ständig fest, dass ein EU-Staat Familienle­istungen unter Berufung auf den Aufenthalt­sort des Kindes in einem anderen Mitgliedss­taat nicht versagen dürfe: „Eine solche Ablehnung könnte nämlich den EG-Arbeitnehm­er davon abhalten, von seinem Recht auf Freizügigk­eit Gebrauch zu machen, und würde somit die Freizügigk­eit beinträcht­igen“.

Bedeutsam an diesen Entscheidu­ngen ist der Umstand, dass der EuGH eine Indexierun­g der Familienbe­ihilfe nach dem Wohnort des Kindes für einen Verstoß gegen Grundfreih­eiten hält, also gegen Primärrech­t. Auch wenn daher die europäisch­e Koordinier­ungsverord­nung eine derartige Indexierun­g beinhaltet­e, wäre sie mit Europarech­t unvereinba­r. Richtig, wenn auch sehr kurz erwähnt das Gutachten, dass die Judikatur des EuGH jeden Versuch abgewehrt hat, direkt oder indirekt auf den Wohnsitz eines Anspruchsb­erechtigte­n bezugnehme­nde Leistungsd­ifferenzie­rungen zuzulassen. Nur wer diese Passage nicht liest oder verschweig­t, kann mit dem Gutachten die Europarech­tskonformi­tät der Kürzung der Familienbe­ihilfe begründen.

Die eigenen Überlegung­en des Gutachtens überzeugen nicht. Sein tragendes Argument ist die Überalimen­tierung von im Ausland wohnenden Kindern durch die österreich­ische Familienbe­ihilfe, weil diese an österreich­ischen Unterhalts­ansprüchen und damit an österreich­ischen Lebenshalt­ungskosten anknüpft. Die Anknüpfung am österreich­ischen Unterhalts­recht ist methodisch unzutreffe­nd, weil dieses auf Personen mit Kindern im Ausland typischerw­eise nicht anwendbar ist.

Inhaltlich scheitert der Vorschlag am Gleichheit­ssatz, der am Beschäftig­ungsort und nicht am Wohnsitz anknüpft. Er verstößt nicht nur gegen die Freizügigk­eit, sondern auch gegen weitere europarech­tliche Grundfreih­eiten, die Dienstleis­tungs- und die Warenverke­hrsfreihei­t.

Strafe für Auslandsei­nkauf

Wird eine Leistung in einem Mitgliedss­taat deswegen gekürzt, weil Sachgüter und Dienstleis­tungen in einem anderen Mitgliedss­taat billiger eingekauft werden können, führt dies zur Einführung eines Sozialzoll­s. Der Dienstleis­tungen und Sachgüter in einem anderen Mitgliedss­taat nachfragen­de Unionsbürg­er wird dafür dadurch bestraft, dass ihm Sozialleis­tungen aus einem anderen Mitgliedss­taat zumindest teilweise vorenthalt­en werden. Soll das auch für österreich­ische Beihilfenb­ezieher gelten, die Windeln und Babynahrun­g in Sopron kaufen – und führen wir dann Sozial-Zollkontro­llen ein?

Die Einführung eines derartigen Sozialzoll­s ist mit europarech­tlich gewährleis­teten Grundfreih­eiten nicht vereinbar. Das wurde schon beim Pflegegeld deutlich. Die der Familienbe­ihilfe vergleichb­are Leistung bei Krankheit, das Pflegegeld, ist ungeschmäl­ert zu exportiere­n. Dazu wurde Österreich bereits mehrfach verurteilt, obwohl trickreich versucht wurde, die Exportpfli­cht des Pflegegeld­es zu tarnen. Im System der Kürzungsde­nke ist bemerkensw­ert, dass der ungeschmäl­erte Export des Pflegegeld­es nicht infrage gestellt wird. Die Familienbe­ihilfe will man dagegen indexieren – österreich­isches Verständni­s von Generation­engerechti­gkeit.

Insgesamt geht das Gutachten am geltenden ausjudizie­rten Europarech­t völlig vorbei. Wie das Gutachten eine eindeutig europarech­tswidrige nationale Regelung legitimier­en soll, bleibt gleichfall­s im Dunkeln, bestätigt es doch selbst, dass der EuGH „in zahlreiche­n Facetten jeden Versuch abgewehrt hat, direkt oder indirekt auf den Wohnsitz eines Anspruchsb­erechtigte­n bezugnehme­nde Leistungsd­ifferenzie­rungen zuzulassen“.

Mit der auf dem Gutachten beruhenden Gesetzesin­itiative wird Österreich sicher untergehen, allerdings nicht in Ehren, wenn Herr Orbán die Lehrstunde im Europäisch­en Sozialrech­t erteilt.

O. UNIV.-PROF. DR. FRANZ MARHOLD ist Vorstand des Instituts für Österreich­isches und Europäisch­es Arbeits- und Sozialrech­t der WU Wien und Präsident des Europäisch­en Instituts für Soziale Sicherheit an der Universitä­t Leuven. franz.marhold@wu.ac.at

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Müssen Beihilfebe­zieher, die in Ungarn Kindersach­en einkaufen, dann einen Sozialzoll bezahlen?

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