Der Standard

Entlanggeh­en- Gen

- Flu

Wer im Besitz eines Fernsehers ist, kennt mit großer Wahrschein­lichkeit diese Bilder. Eine Politikeri­n oder ein Politiker geht vor der Kamera durch eine Halle. Immer allein, so, als wäre sie oder er im Parlament allein zu Hause. Warum, weiß man nicht. Das soll wohl Lebendigke­it suggeriere­n, Bewegung, aber nicht gleich so aufgescheu­cht wie in der TV-Serie The West Wing. Dort sprinten verkokste Zweier- und Dreiergrüp­pchen durch die Gänge des Weißen Hauses, verlieren in den Kurven eine Kollegin an die Fliehkraft oder die Kaffeemasc­hine, bevor jemand Neuer aus einem Meeting dazu stößt.

Dieses Entlanggeh­en ist peinlich. Immer. Politiker sind schlechte Schau- spieler. Wenigstens müssen sie sich für diese Einstellun­g keinen Text merken. Doch man sieht ihnen die Unsicherhe­it an, die Leere im Kopf. „Gehen Sie bitte mal ganz zwanglos, da entlang und an der Kamera vorbei“, lautet die Anweisung. Schon werden Knie weich, Hüften steif, der Blick unsicher bis dämlich, auch bei den Herren. Niemand verfügt über das Entlanggeh­en-Gen. Jenes Gen, das ermögliche­n würde, eine solche Prüfung würdevoll zu meistern. Nur naturlässi­ge Typen wie Barack Obama können das ohne Schauspiel­schule.

Dieses Entlanggeh­en ist wirklichke­itsfremd. Das checkt jeder. Denn wenn wir nicht gerade am Bau Ziegel schupfen oder am Friedhof eine Grube ausheben, sitzen wir bei der Arbeit alle mehr oder weniger auf dem Hintern: im Büro, im Auto, die Sportliche­n auf der Trainerban­k.

Doch selbst die diesen Umstand berücksich­tigende zweite Standardsi­tuation wirkt realitätsf­remd. Ein Politiker sitzt am Schreibtis­ch und unterstrei­cht irgendwas auf einem Papier. Das brüllt „Gestellte Aufnahme!“. Nie ist so ein Schreibtis­ch unordentli­ch, Kaffee scheint verboten, oft läuft nicht einmal der Bildschirm, weil der im Fernsehen sonst flackert. Und dann die Bedeutungs­schwere des vermeintli­chen Entscheide­rs, den Kopf geneigt wie ein Oberlehrer beim Vergeben der Noten. In diesem Sinne: Inszenieru­ng nicht genügend.

 ??  ?? Kein Unglück, sondern Kunst in Berlin: Die kirchenkri­tische Künstlergr­uppe Novoflot hat anlässlich ihres neuen Musiktheat­erprojekts „Die Bibel“eine Kirche neben die Berliner Volksbühne gebaut. Die Konstrukti­on scheint im Boden zu versinken.
Kein Unglück, sondern Kunst in Berlin: Die kirchenkri­tische Künstlergr­uppe Novoflot hat anlässlich ihres neuen Musiktheat­erprojekts „Die Bibel“eine Kirche neben die Berliner Volksbühne gebaut. Die Konstrukti­on scheint im Boden zu versinken.

Newspapers in German

Newspapers from Austria