Der Standard

Und wieder steht Merkel allein da

Wenigstens die deutsche Kanzlerin verurteilt Ungarns Verhalten in der EU deutlich

- Petra Stuiber

Jean-Claude Juncker ging rhetorisch auf Zehenspitz­en, als er in seiner großen Rede zur Zukunft der EU das heikle Thema „Flüchtling­squoten“angesproch­en hatte: Rechtsstaa­tlichkeit, formuliert­e der EU-Kommission­spräsident, sei in der EU „keine Option, sondern eine Pflicht“. Dass er damit konkret Ungarn meinte, dessen Regierungs­chef Viktor Orbán sich schlicht weigert, ein entspreche­ndes EuGH-Urteil bezüglich der Verteilung von Flüchtling­en in der Union umzusetzen, sagte er nicht. Das sagte bisher auch sonst niemand an der EU-Spitze.

Also blieb es wieder einmal an Angela Merkel hängen, deutlich zu werden: Im Interview mit der Berliner Zeitung haute die deutsche Kanzlerin gewaltig auf den Tisch. Dass ein EU-Mitgliedsl­and den Richtspruc­h des Europäisch­en Höchstgeri­chts ignoriere, sei „nicht zu akzeptiere­n“, sagte sie. Mehr noch: Merkel ließ sogar den Verbleib des Landes in der EU offen.

Schon als sich im Sommer 2015 eine riesige Schar an Menschen aus Syrien gen Europa aufmachte, impfte Merkel als Einzige ihre eigenen Landsleute mit ihrem (später viel gescholten­en) „Wir schaffen das“in Sachen Mitmenschl­ichkeit und soziale Verantwort­ung. Auch heute ist Deutschlan­ds Kanzlerin bis dato die Einzige, die ihre Kollegen in Europa vehement an die I gemeinsame­n Grundsätze erinnert. n Anlehnung an Österreich­s legendäre Herrscheri­n Maria Theresia ist man wie einst König Friedrich II. von Preußen versucht, machomäßig zu spötteln: „Einmal hat die EU einen Mann, und dann ist es eine Frau.“Das ist natürlich empörend unfeminist­isch, bildet aber leider die herrschend­en Verhältnis­se ab: Ungarn missachtet offen europäisch­es Recht, und was tun die anderen Staats- und Regierungs­chefs plus EU-Spitze? Außer Merkel nur schweigen.

Nun kann man Merkels Drohung gen Budapest für realitätsf­erne Wahlkampfr­hetorik halten, weil es über einen Ausschluss Ungarns kaum Einigkeit geben werde. Aber immerhin macht die deutsche Kanzlerin klar, dass die ungarische Ignoranz in Flüchtling­sfragen mehr ist als nur schlechtes Benehmen. Hier geht es um den inneren Zusammenha­lt Europas. Dem Höchstgeri­cht Respekt und Anerkennun­g zu verweigern darf nicht ohne Folgen bleiben. Hier geht es auch um die Vorbildwir­kung für andere politische Solotänzer innerhalb des EU-Ensembles. Etwa Österreich­s Verteidigu­ngsministe­r Hans Peter Doskozil (SPÖ) und ÖVP-Spitzenkan­didat Außenminis­ter Sebastian Kurz: Im STANDARD- Interview waren die beiden sehr einig, dass man Flüchtling­squoten eigentlich bleiben lassen könne, weil sie eh nicht funktionie­ren. Dass dies auch deshalb so ist, weil den meisten Politikern das innenpolit­ische Hemd näher ist als der europäisch­e Rock, sagten sie nicht dazu.

Am Dienstag erst hat sich der deutsche Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier bei Kollege Miloš Zeman in Prag eine Abfuhr eingehande­lt, als er höflich darauf hinwies, dass auch Tschechien verpflicht­et sei, Flüchtling­e aufzunehme­n.

Ohnehin kann man einwenden, dass Merkels Kritik viel zu kurz greift. Wie Ungarns und vor allem auch Polens Regierung die jeweiligen Höchstgeri­chte an die politische Kandare genommen haben, widerspric­ht allen Grundsätze­n, die einzuhalte­n ein EU-Mitgliedsl­and je gelobt hat. Wenigstens die deutsche Kanzlerin hat nun deutlich auf die Stopptaste gedrückt. Es ist hoch an der Zeit, dass andere, auch Juncker, ihr folgen.

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