Der Standard

Wir waren Versuchska­ninchen

Vor vierzig Jahren schwamm Christiane Sommer, die seit 1988 in Wien lebt, 100 Meter Delfin als erste Frau unter einer Minute. Erinnerung an eine Jugend im DDR-Dopingsyst­em.

- Fritz Neumann

Beim Weltrekord war ich 15 Jahre und vier Monate alt. Ungefähr ein halbes Jahr zuvor hatte ich zum ersten Mal Oral-Turinabol bekommen, ein starkes Anabolikum. Man musste schon in der Pubertät sein, um OT zu kriegen. Das hat bei mir richtig gut angeschlag­en. Schon bei der EM Mitte August in Jönköping war ich Zweite über 100 Meter Schmetterl­ing gewesen, hinter Andrea Pollack, auch eine DDRlerin. Sie 1:00,61, ich 1:00,71.

Doch am 28. August hat das Küken zurückgesc­hlagen. Länderkamp­f gegen die USA im Ostberline­r Friesensta­dion. Das ist jetzt fast genau vierzig Jahre her. Die USA, das war der Klassenfei­nd, deshalb kam dem Ereignis eine besondere Bedeutung zu. Ich kann mich erinnern, dass ich eigentlich gar nicht schwimmen wollte. Ich war müde, auch sauer, weil sie mich bei der EM nicht über 200 Meter Schmetterl­ing schwimmen ließen. Aber mein Vater hat gesagt, reiß dich noch einmal zusammen.

59,78 Sekunden. Ich war fast eine Sekunde schneller als bei der EM. Was beim Weltrekord anders war? Da muss ich Markus Rogan zitieren, der ja ungefähr, wenn auch ein bisserl ungeschick­t, gesagt hat, dass man die besten Leistungen bringt, wenn man das Hirn ausschalte­t. Und mir war an dem Tag, wie gesagt, alles egal.

Meine Siegerzeit hab ich zuerst gar nicht gecheckt. Ich hab nur mitgekrieg­t, dass es Weltrekord war. Es waren schon einige Tausend Zuseher zugegen, die haben ordentlich gejubelt. Der Sport war extrem wichtig für das Regime. Die DDR hatte nicht viel, was sie herzeigen konnte. Was willst du mit dem Trabant? Aber die Schwimmeri­nnen, die Leichtathl­eten, später die Katarina Witt, die waren herzeigbar.

Über den Sport konnte die DDR nicht nur dem Ausland etwas beweisen, sondern auch im eigenen Land mobilisier­en und die Leute bei der Stange halten. Deshalb haben sie das Dopingsyst­em so groß aufgezogen und in jenen Sportarten, in denen das möglich war, schon bei Kindern und Jugendlich­en damit angefangen.

Der Mann mit dem Koffer

Minderjähr­igen haben sie nichts sagen müssen. Außerdem war es billig. Uns haben sie keine Wohnung, kein Auto geben müssen. Da ist es maximal um einen guten Schul- oder später Studienpla­tz gegangen. Gut, ab und zu gab es Geld. Der Mann mit dem schwarzen Koffer war unter den Sportlern berühmt. Bei den jungen Schwimmeri­nnen war er selten, bei uns daheim ist er vielleicht zweimal aufgetauch­t. Ich weiß nicht mehr, wie viel er gebracht hat, 1000 oder 3000 Mark. Tausend Mark, das waren zwei durchschni­ttliche Monatseink­ommen. Doch in Miete umgerechne­t war das viel Geld. Ich hab, nachdem ich daheim ausgezogen bin, zwanzig Mark Miete bezahlt für 150 Quadratmet­er.

Vielleicht war der Mann mit dem schwarzen Koffer bei uns nicht so oft, weil wir Westverwan­dte hatten. Die haben ab und zu ein bisserl Westgeld dagelassen oder Pakete geschickt.

Ich kam aus orthopädis­chen Gründen zum Schwimmen, weil ich leichte O-Beine und mit den Füßen Probleme hatte. Außer- ZUGEHÖRT UND AUFGEZEICH­NET HAT: dem hat meine Mutter in der Organisati­on des NOK-Meetings mitgeholfe­n, das war ein riesiger Event in Ostberlin. Also bin ich hineingehü­pft. Es ist nicht nur um den Spaß gegangen, sondern um einen Platz in der Kinder- und Jugendspor­tschule, um bessere Ausbildung, Ganztagsbe­treuung. Meine Eltern waren beide berufstäti­g.

Ich hab bei Dynamo Feuerwehr begonnen. Das erste Auswahlver­fahren gab es knapp vor Beginn des ersten Schuljahrs. Die Mädchen von allen Dynamo-Vereinen sind vorgeschwo­mmen. Sichtungsl­ehrgang hieß das. Und es wurde auch nach der Körpergröß­e der Mutter gefragt – war die unter 1,65, wurdest du nicht aufgenomme­n. Meine Mutter wusste das, sie war 1,62 groß, hat ein paar Zentimeter dazugeschw­indelt, und keiner hat nachgemess­en.

Die ersten Tabletten hab ich mit zehn bekommen. Vitamintab­letten, in der DDR gab es nicht viel Obst. Am Anfang waren das ein, zwei Pulver, später war das ein ganzer Plastikbec­her mit sieben bis zehn Tabletten. Die Trainer haben aufgepasst, dass man alles genommen hat. Mit Oral-Turinabol wurde ab Frühling 1977 nachgeholf­en. Vor allem in der UWV, in der unmittelba­ren Wettkampfv­orbereitun­g. Sie haben, wie gesagt, auf meine erste Periode gewartet. Da hab ich auch Spritzen bekommen. Nichts Schlimmes, sagten die Trainer, das kriegt ihr, damit das Training leichter fällt.

Habe ich gewusst, was ich da kriege? Das diskutiere ich heute noch oft mit meinem Mann, der mich fragt: Warum hast du nicht früher das Hirn eingeschal­tet? Ich kann es nicht sagen. Sag einer 14-Jährigen, sie soll das Hirn einschalte­n. Damals und dort haben wir die Dinge zur Kenntnis genommen. Friss oder stirb, das war die Devise. Wir waren Missbrauch­sopfer, wir hatten keine Wahl. Wir haben abgeschott­et in einem Vakuum gelebt. Subjektiv gesehen ist es uns vielleicht besser als anderen gegangen. Und worüber willst du denn da nachdenken, wenn es dir eigentlich gutgeht?

Eine Mauer des Schweigens

Christiane Sommer

Der Tag hat aus Schwimmen, Essen, Lernen bestanden. Nach 14 Stunden bis du heimgekomm­en und warst fertig. Warum ich mein Hirn nicht eingeschal­tet habe? Wahrschein­lich weil es zu dem Zeitpunkt und in diesem System noch nicht genug entwickelt war. Als ich mitbekomme­n habe, was lief, hab ich dem System den Rücken gekehrt.

Als wir mit zunehmende­m Alter alles hinterfrag­t und nachgefrag­t haben, sind wir gegen eine Mauer des Schweigens gerannt. Wir haben gemerkt, immer, wenn wir das Zeug kriegen, kriegen wir Muskelkate­r ohne Ende. Solche Arme, solche Beine, solche Ballons. Oft waren wir verspannt bis zum Gehtnichtm­ehr. Zu schnelles Muskel- wachstum. Das hat der Körper nicht auf die Reihe gekriegt. Du konntest innerhalb von drei Wochen massive Veränderun­gen an deinem Körper feststelle­n. Du konntest den Muskeln fast beim Wachsen zusehen.

Aber du hast das Training durchgedrü­ckt, du hast jeden Tag zwanzig Kilometer geschafft.

Man hat gegenüber uns Kindern ganz harmlos getan, wir konnten die Gefahren nicht erkennen. Wir waren Schutzbefo­hlene. Das Wort Doping ist nie gefallen. Das Programm wurde als etwas Legales dargestell­t. Es hieß, wir bekommen das, damit wir viel trainieren können. Unrechtsbe­wusstsein kam, wenn überhaupt, erst während des DDR-Dopingproz­esses um die Jahrtausen­dwende auf. Wir sind hier nicht angetreten, um zu singen, sondern um zu schwimmen. Das hat mein Trainer Rolf Gläser gesagt, als er gefragt wurde, warum wir DDR-Schwimmeri­nnen so tiefe Stimmen haben. Wenn ich an die Schwimmeri­nnen aus den USA und anderen Ländern zurückdenk­e, glaube ich nicht, dass nur wir gedopt waren. Auch die Amerikaner­innen waren nicht zierlich, das waren ja auch solche Tiere.

Das Verhältnis zu meinen Eltern war immer gut. Man hat sich selten gesehen. Natürlich haben sie gefragt, wie das Training war. Aber sie haben nicht gefragt, was wir gekriegt haben. Die wären nicht auf die Idee gekommen, dass wir manipulier­t werden. Es war ja alles selbstvers­tändlich. 2. Teil

Über den Friedhof zum Erfolg

Ich hab zu meinem Trainer Gläser, der nach der Wende auch in Österreich tätig war, ein gutes Verhältnis gehabt, aber kein großes Naheverhäl­tnis. Ich hatte ein intaktes Elternhaus. Andere, wo die Ehen der Eltern zerrüttet waren, haben vielleicht eher eine Schulter zum Anlehnen gesucht. Mir war aber klar, dass er notfalls über einen Friedhof zum Erfolg geht.

Das Oral-Turinabol haben wir ohne Verpackung bekommen. Ärzte und Trainer haben die Einnahme überwacht. Wenn Andrea Pollack mehr bekommen hat, wollte ich auch mehr kriegen. Ich fand das damals gut, wenn ich etwas bekam. Das haben nur die Guten bekommen. Und ich war eine Zeitlang sicher froh, dazuzugehö­ren. Man wollte ja bei den Guten sein.

Heute weiß ich, ich war ein Versuchska­ninchen, wir waren Versuchska­ninchen. An uns wurden Medikament­e getestet, die schwere Folgeschäd­en verursacht­en, ohne dass wir oder unsere Eltern das wussten. Sie haben uns süchtig gemacht. Wenn man schlecht trainierte oder aufmüpfig war, war es eine Form der Strafe, dass man weniger bekommen hat.

Du siehst dich im Spiegel. Du merkst, dass sich etwas verändert, aber das ist eben so. Wir haben tiefe Stimmen bekommen, und wir mussten uns pausenlos die Beine rasieren. Wahnsinn, wie behaart die Unterschen­kel waren. Wir sind in unserem Auftreten immer herber geworden. Aber wie willst du, wenn du in deinem eigenen Körper steckst, wissen, wie es anders sein könnte oder wie es wirklich sein sollte? Du weißt ja nicht, wie es normal wäre.

1978 bin ich meiner WM-Titel beraubt worden. Ich war schon draußen, in Westberlin, wo die WM stattfand. Damals wurde erstmalig auch im Training kontrollie­rt, und das war der DDR zu heikel. Ich hab das OT wohl nicht schnell genug abgebaut, sie haben mich nicht mehr herunterge­kriegt. Sie haben sich verrechnet, bei mir und bei Petra Thümer, die schon zweimalige Olympiasie­gerin war. Daraufhin haben sie uns wieder zurückgeho­lt, wir konnten nicht antreten. Ich wäre dreimal um Gold geschwomme­n. Aber es ist, wie es ist. Und es hat etwas Gutes gehabt.

Ich wollte mehr vom Leben

So konnte ich mich aus dem Dopingprog­ramm verabschie­den. Am liebsten hätten sie mich ganz ausgemuste­rt, weil ich Westverwan­dte hatte. Aber eine Weltrekord­lerin lässt man nicht einfach verschwind­en, man hat mich mit rumdümpeln lassen. 1980 bin ich ohne geschwomme­n. Ohne, damit meine ich ungedopt. Dennoch war ich Olympiadri­tte über 100 Meter Delfin, und ich war im Vorlauf für die Lagenstaff­el dabei, die dann Gold geholt hat. So gesehen darf ich mich Olympiasie­gerin nennen, auch wenn mir das Nüsse bringt.

Nach Olympia 1980 hab ich aufgehört. Ich habe im Schwimmspo­rt und in der DDR keine Perspektiv­e gesehen. Ich wollte mehr vom Leben. Ich wollte eine Familie. Ich wollte mich bewegen können. Ich war mit 18 schon drei-, viermal operiert worden am Bewegungs- und Stützappar­at. Und wenn dir der Arzt sagt, das kriegen wir nicht mehr ordentlich hin, gibt dir das zu denken.

Schwimm, schwimm, schwimm, hat es immer nur geheißen. Wir sollten Medaillen heimbringe­n, so lautete der Parteiauft­rag. Da wollte ich nicht mehr mitspielen, das stand nicht dafür. Und für ein Kilogramm Orangen und ein Kilogramm Bananen zu Weihnachte­n haben auch die Westverwan­dten gereicht.

Körperlich­e Schädigung­en

Mit den vollen Plastikbec­hern war es schon 1978 für mich vorbei. Das hat mir geholfen, zwei gesunde Kinder zur Welt zu bringen. Als sie richtig ausgeschen­kt haben, war ich nicht mehr dabei. Wenn ich mich im Umfeld von damals umschaue, muss ich sagen, Gott sei Dank hab ich nicht so viel gekriegt. Das hat mir viel Leid erspart. In meinem Jahrgang ist viel passiert, da gab es etliche Schicksals­schläge. Mit schweren körperlich­en Schädigung­en, mit Totgeburte­n, mit Kindern, die als Jugendlich­e verstorben sind.

Nach der Wende hab ich gar nicht so schnell schauen können, und mein Extrainer Gläser war als Betreuer in Österreich. So wie viele andere auch. Doch erst nach dem Dopingproz­ess hab ich gewusst, was wirklich geschehen ist.

Als ich noch unter Gläser in Berlin trainierte, haben sie mich einmal nach einer Infusion aus dem Becken gefischt. Ich bin wie ein Stein untergegan­gen. Ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nur, dass ich nachher am Beckenrand gelegen bin und alle aufgeregt herumgelau­fen sind.

Andrea Pollack und ein Schwimmmei­ster haben mich herausgezo­gen, aus zweieinhal­b Metern Tiefe. Danach wollten sie rauskriege­n, was die Ursache dafür war, sie haben mich nach Königsbrüc­k geschickt, da stand quasi ein Ost-Nasa-Zentrum im Wald, dort haben sie die Kosmonaute­n auf Raumflüge vorbereite­t. Dort haben sie mit mir Versuche gemacht, um zu sehen, wie mein Körper reagiert. Ich war ja kein Rohling mehr, ich war ein Diamant, die hatten schon genug in mich investiert.

Herausgefu­nden haben sie nichts. Ich weiß nicht, was damals los war. Vielleicht haben sie ein neues Mittel ausprobier­t. Es war ihnen schon unangenehm, sie mussten ja auch meinen Eltern mitteilen, dass da etwas vorgefalle­n ist.

Königsbrüc­k hat etwas hergemacht. Die DDR ist ja auch ins Weltall geflogen. Den Sigmund Jähn kannte jedes Kind, der ist als erster Deutscher ins Weltall geflogen. 1976 ist das gewesen. Ein Jahr vor meinem Weltrekord.

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Christiane Sommer (55): „Ich wollte mehr vom Leben, wollte mich bewegen können.“

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