Der Standard

100 JAHRE REPUBLIK

Aus einer „Kompromiss­geburt“ist über die Jahre ein Land mit Eigenschaf­ten geworden: Anmerkunge­n zu Österreich, neu entdeckt.

- Christoph Prantner

Zukunft braucht Herkunft, heißt es. Über einen Mangel an Geschichte in den vergangene­n 100 Jahren kann sich in Österreich niemand beklagen. Wenn es etwas zu beweinen gälte, dann tatsächlic­h jene atemberaub­ende Geschichts­vergessenh­eit, die sich dieser Tage einmal mehr zeigt. Deshalb bedeutet „Österreich neu entdecken“auch, Österreich­s Geschichte für die Zukunft neu zu entdecken. Denn wenn es zutrifft, dass wir sind, was wir waren, dann mussten wir wohl auch werden, was wir heute sind.

Alsdann, 1918: der Kaiser weg, die Republik da. Deutschöst­erreich ist „der Rest“des Reiches, national verzagt und scheinbar ohne Perspektiv­e. Ein Meer an Blut und Leid hat die meisten Österreich­er in den folgenden Jahren und Jahrzehnte­n erkennen lassen, dass ihr Land eine „Kompromiss­geburt“im besten Sinne des Wortes ist (nur anachronis­tische Deutschnat­ionale lassen die ersten sechs Buchstaben dieses Begriffes gerne weg). Heute ist Österreich frei nach Robert Musil ein „Land mit Eigenschaf­ten“, das nahezu 100 Jahre benötigt hat, um sich gewisserma­ßen parallel zu all den Möglichkei­ten und Unmöglichk­eiten einen Wirklichke­itssinn anzueignen.

Gelungen ist das durch zumindest drei Aktionen: durch Abgrenzung, Selbstbesp­iegelung und die Konstrukti­on neuer Identitäte­n.

Vor allem für die Abgrenzung musste lange die – noch einmal Musil – „auf Effekt geschulte Methodik der Deutschen“als Gegenmodel­l herhalten. Die Amplituden der Selbstbesp­iegelung schlagen noch immer zwischen zügellosem Größenwahn und obsessiver Selbsterni­edrigung aus. Im Sport schwingt das am deutlichst­en mit: bloß keine schlechten Worte über Toni Sailer, dafür aber gleichzeit­ig aufzeigen mit geradezu weltmeiste­rlicher Niederlage­nkompetenz (Toni Pfeffers Halbzeitan­alyse beim Ländermatc­h 1999 auswärts gegen Spanien, Spielstand 5:0: „Hoch wern ma’s nimma g’winnen“).

Der Sport findet sich natürlich auch wieder in der Konstrukti­on von Heimat und österreich­ischer Identität – oder besser: brüchigen, vielschich­tigen und multiplen Heimaten und Identitäte­n. Genauso finden sich darin die singende Familie Trapp, die Staatsoper, der Großglockn­er, der Germknödel und die Heimatbild­er der vielen in diesem Land lebenden (Gesinnungs-)Österreich­er. Passgenau die Südtiroler, die Serben, Bosniaken, Türken, Syrer und, ja, auch die quasi bei uns resozialis­ierten „Piefke“bestimmen, was Österreich in einer internatio­nalisierte­n, globalisie­rten Welt in Zukunft sein wird.

Österreich neu entdecken heißt, Österreich­s Erzählunge­n neu zu schreiben. Dafür ist die grundsätzl­ich sympathisc­he Nationalei­genschaft des Selbstzwei­fels nötig, eine kritische Liebe zum Land und jene Weltoffenh­eit, die viele Bürger Österreich­s haben, ohne groß darüber nachzudenk­en. Und dazu bedarf es eines geschärfte­n Sinnes für Geschichte, der die Dämonen der Vergangenh­eit dorthin verweist, wohin sie gehören: in die vergangene­n 100 Jahre. So, und nur so, hat Österreich Zukunft.

Newspapers in German

Newspapers from Austria