Der Standard

Wien hatte stets große Zuwanderun­gswellen: um 1900 Tschechen und Juden, nach 1945 „Volksdeuts­che“, ab den 1960ern jugoslawis­che und türkische „Gastarbeit­er“, zuletzt EU-Osteuropäe­r, ganz zuletzt Flüchtling­e – und immer Probleme.

- Hans Rauscher

Unter den Vorfahren des früheren Bundeskanz­lers Franz Vranitzky (geboren 1937 in Wien) waren Zuwanderer (aus dem slawischen Teil der Monarchie); unter den Vorfahren des heutigen Vizekanzle­rs Heinz-Christian Strache (geboren 1969 in Wien) waren Zuwanderer (aus dem „Sudetenlan­d“im heutigen Tschechien). Unter den Vorfahren des heutigen Bundespräs­identen Alexander Van der Bellen (geboren 1944 in Wien) waren Zuwanderer aus den Niederland­en, Estland und dem Deutschen Reich. Und so könnte man endlos fortsetzen, mit all den Wiener Prominente­n, die tschechisc­hen, ungarische­n, italienisc­hen, serbischen, kroatische­n, polnischen, deutschen oder „volksdeuts­chen“etc. „Migrations­hintergrun­d“haben.

Wien war immer eine Stadt der Zuwanderer. Zunächst als Erbe der Monarchie. Dann der ungeheuren Verwerfung­en durch den Zweiten Weltkrieg. Zuletzt durch die gewollte Arbeitsmig­ration ab den 60er-Jahren des 20. Jahrhunder­ts. Und zuallerlet­zt durch die überwiegen­d muslimisch­e Fluchtbewe­gung aus dem Nahen Osten 2015/16.

Und es hat in den letzten 100 Jahren immer wieder massive, ja mörderisch­e Reaktionen auf die große Zuwanderun­g gegeben. Wie ÜBERBLICK: Definition kommt man auf 39,3 Prozent Einwohner von Wien mit „Migrations­hintergrun­d“.

Sieht man sich die nach diesen Kriterien gemessene Entwicklun­g seit 2011 im Statistisc­hen Jahrbuch 2017 der Stadt Wien an (Auszug aus der Tabelle unten), so kommt man auf interessan­te Ergebnisse: Keineswegs stellen die Türken, wie oft vermutet, die größte Gruppe mit „Migrations­hintergrun­d“, und ihre Zahl blieb stabil: von 74.000 auf 77.000 heute. Die größte Gruppe sind die Serben (100.000), gefolgt von den Türken, Polen (53.000) und Deutschen (57.000). Tatsächlic­h war die Zuwanderun­g ab 2011 hauptsächl­ich eine aus der EU, im Wesentlich­en Deutschlan­d und Osteuropa, wobei Polen, Ungarn, Rumänen die größten Zuwächse hatten.

Ängste vor Islamisier­ung

Doch die überwiegen­d muslimisch­e Zuwanderun­g 2015/16 verstärkte schon vorher existente und von der politische­n Rechten geschürte Ängste vor „Islamisier­ung“. Die Flüchtling­swelle spiegelt sich in der Verdoppelu­ng der Zuwanderun­g aus Asien von 64.000 auf 113.000 wider, da sind die Syrer (nicht extra ausgewiese­n) und die Afghanen (auf 16.000 vervierfac­ht) mit dabei.

Das erinnert an die schweren Konflikte im Zusammenha­ng mit den beiden großen Zuwanderun­gswellen vor über 100 Jahren, in der Monarchie: die Juden und die Tschechen. Im Ersten Weltkrieg lebten rund 300.000 Tschechen und Slowaken in Wien, das damals rund zwei Millionen Einwohner hatte. 1910 lebten 175.318 Juden in Wien (8,3 Prozent), während des Weltkriegs erhöhte sich die jüdische Bevölkerun­g um weitere 125.000 Personen. Die überwiegen­d bitterarme­n, rückständi­gen und durch ihren Habitus auffällige­n „Ostjuden“stießen sofort auf Ablehnung.

Nach dem Krieg ging die Zahl der Flüchtling­e rapide zurück, aber es lebten 180.000 Juden weiter in Wien, und der Antisemiti­smus verfestigt­e und verstärkte sich – mit bekannten Konsequenz­en.

Tschechisc­h war verpönt

Ähnlich, wenngleich nicht ganz so rabiat war die Haltung gegenüber den zugewander­ten Tschechen. Die Tschechen (und Slowaken) kamen im Zuge der Binnenmigr­ation in der Monarchie etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunder­ts als Handwerker, (Schwer-)Arbeiter und Dienstpers­onal ins boomende Wien. Unter dem christlich­sozialen, deutschnat­ionalistis­chen und antisemiti­schen Bürgermeis­ter Karl Lueger wurden sie zunächst schlecht behandelt und vor allem einem massiven Assimilati­onsdruck ausgesetzt. Die tschechisc­he Sprache war verpönt.

Nach dem Zusammenbr­uch der Monarchie und der Errichtung der Tschechosl­owakei kehrten zwischen 150.000 und 200.000 Wiener Tschechen und Slowaken wieder „heim“. Die anderen assimilier­ten sich. Heute stammt ein gutes Drittel der Wiener Bevölkerun­g von Zuwanderer­n aus Böhmen, Mähren und der Slowakei ab.

Ohne die Tschechen, Slowaken und die Juden wäre Wien nicht zu der boomenden, wirtschaft­lich und kulturell blühenden Stadt

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Die beiden großen Zuwanderun­gswellen zwischen 1870 und 1918: Tschechen, die sich als Schwerarbe­iter („Ziegelböhm“, oben) oder als Dienstmädc­hen verdingten, und Juden, zunächst aus Böhmen, dann dem fernen Osten der Monarchie (Galizien, Bukowina, unten)....
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