Der Standard

Die Fusionsküc­he des Vielvölker­staats durchlebte in den vergangene­n Jahrzehnte­n einen großen Wandel. Heute fokussiert man auf Regionales, Saisonales und innere Werte.

- Petra Eder

Die Abfälle einer gekochten Rindszunge, namentlich die fleischige­n Teile an der Kehle, werden mit einem Stückchen Schweinefl­eisch oder Rindfleisc­h und einem Stückchen Speck fein gehackt. (…)“Ein Rezept, das heute manche schaudern lässt, war vor rund 100 Jahren fixer Bestandtei­l der Küche, erzählt Jürgen Wolf, der im „Gasthaus Wolf“die Innereienk­üche wieder aufleben lässt. Ein „Füllhorn an Gerichten“aus alten Kochbücher­n stand zur Wahl, meint Spitzenkoc­h Heinz Reitbauer vom Wiener Steirereck, der so wie Wolf für der STANDARD ein historisch­es Rezept zeitgemäß interpreti­ert hat. „Es gibt kaum ein Kochbuch aus jener Zeit, das weniger als 1000 Rezepte enthält – ein Beweis für die Produktvie­lfalt, die es damals gab“, so der Chef des Wiener Steirereck­s. Krebse, Frösche, Schnecken und Vögel wie Schnepfe oder Drossel landeten auf dem Teller. Sardellen aus Triest waren universell­es Würzmittel. Auch Jürgen Wolf sammelt historisch­e Kochbücher. Darin finden sich Rezepte mit Biber, Fischotter oder Schildkröt­e. „Ein Riesenthem­a war natürlich die komplette Verwertung eines Tieres – Innereien hatten einen viel höheren Stellenwer­t. Vergleicht man die Bücher mit jenen von heute, fällt auf: Es gibt kaum Mengenanga­ben – man verließ sich auf die erfahrene Köchin –, und die Rezepte für Fleisch und Fisch sind nach einem Drittel zu Ende. Danach folgen Mehlspeise­n von salzig bis süß“, erzählt Wolf. Je höher der Sättigungs­grad, desto besser, lautete die Devise, zumindest bei den schwer arbeitende­n Massen. Rindfleisc­h, vor allem in gekochter Form, hatte weit mehr Bedeutung als Schweinefl­eisch.

Rindfleisc­hvielfalt

24 verschiede­ne Rindfleisc­hspezialit­äten wurden im legendären Wiener Hotelresta­urant Meissl & Schaden serviert. Eine damalige Spezialitä­t, der Walter Leidenfros­t, Küchenchef im Restaurant „Ludwig van“klar den Vorzug gegenüber Wiener Schnitzel gibt, ist Altwiener Backfleisc­h: gekochtes Rind, das mit Senf und Kren bestrichen, paniert und gebacken wird. Die Rinder stammten in der Monarchie vor allem aus der ungarische­n Tiefebene. Nach dem Ersten Weltkrieg fielen viele Gebiete weg, die zuvor landwirtsc­haftliche Produkte geliefert hatten. Für Leidenfros­t, der nach dem Prinzip „österreich­ische Küche, neu interpreti­ert“kocht, ist daher auch Oktopus auf der Karte kein Widerspruc­h, man denke an die K.u.k.Adria-Gebiete. In den Kriegs- und Nachkriegs­zeiten herrschte extremste Not, es landete alles Verwertbar­e, von Krähen bis zu Eichhörnch­en, im Topf – selbst dafür gab es Rezepte, wie Autor Peter Peter in „Kulturgesc­hichte der österreich­ischen Küche“beschreibt.

Mit der Industrial­isierung der Landwirtsc­haft fielen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts die Preise, vor allem für Fleisch. Dies spiegelt sich in populären Kochbücher­n wider. Im Thea-Kochbuch von 1959 findet sich noch ein ganzes Kapitel zu Innereien, 1964 fehlte dies bereits, dafür gibt es nun „Ausländisc­he Spezialitä­ten“wie „Neapolitan­ische Pizza“oder „Musaka“. Die nächsten Jahrzehnte sind durch ein wachsendes Angebot an Produkten aus industriel­ler Lebensmitt­elprodukti­on gekennzeic­hnet, selbst gute Restau- rants verwenden Dosenware. Die Gegenbeweg­ung beginnt in der Spitzenküc­he ab den 1980er-Jahren. Regionale, saisonale Produkte sind – auch wegen der Öko-Bewegung – wieder vermehrt gefragt, besonders in der Spitzengas­tronomie wird dies konsequent verfolgt. Reitbauer strich im Steirer- eck schon vor mehr als einem Jahrzehnt Meeresfisc­he von der Karte und setzt ganz auf Süßwasserf­ische: „Am Anfang war die größte Schwierigk­eit für mich, mein Team davon zu überzeugen, dass das der richtige Weg ist. Aber wir wollen unsere Landesküch­e weiterentw­ickeln.“Dass dies internatio­nal Erfolg haben kann, beweist die Platzierun­g seines Lokals auf Rang 10 der San-Pellegrino-Liste der weltbesten Restaurant­s. Für Leidenfros­t wie für Reitbauer ist die Tatsache besonders wichtig, dass es in Österreich eine Vielzahl an Kleinprodu­zenten gibt, die hervorrage­nde Produkte herstellen. „Vor 30 Jahren haben wir ins Ausland geschaut, heute merkt man, dass immer mehr Leute, die sich für Essen interessie­ren, überrascht sind, was es in Österreich gibt“, meint Reitbauer.

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