Die Fusionsküche des Vielvölkerstaats durchlebte in den vergangenen Jahrzehnten einen großen Wandel. Heute fokussiert man auf Regionales, Saisonales und innere Werte.
Die Abfälle einer gekochten Rindszunge, namentlich die fleischigen Teile an der Kehle, werden mit einem Stückchen Schweinefleisch oder Rindfleisch und einem Stückchen Speck fein gehackt. (…)“Ein Rezept, das heute manche schaudern lässt, war vor rund 100 Jahren fixer Bestandteil der Küche, erzählt Jürgen Wolf, der im „Gasthaus Wolf“die Innereienküche wieder aufleben lässt. Ein „Füllhorn an Gerichten“aus alten Kochbüchern stand zur Wahl, meint Spitzenkoch Heinz Reitbauer vom Wiener Steirereck, der so wie Wolf für der STANDARD ein historisches Rezept zeitgemäß interpretiert hat. „Es gibt kaum ein Kochbuch aus jener Zeit, das weniger als 1000 Rezepte enthält – ein Beweis für die Produktvielfalt, die es damals gab“, so der Chef des Wiener Steirerecks. Krebse, Frösche, Schnecken und Vögel wie Schnepfe oder Drossel landeten auf dem Teller. Sardellen aus Triest waren universelles Würzmittel. Auch Jürgen Wolf sammelt historische Kochbücher. Darin finden sich Rezepte mit Biber, Fischotter oder Schildkröte. „Ein Riesenthema war natürlich die komplette Verwertung eines Tieres – Innereien hatten einen viel höheren Stellenwert. Vergleicht man die Bücher mit jenen von heute, fällt auf: Es gibt kaum Mengenangaben – man verließ sich auf die erfahrene Köchin –, und die Rezepte für Fleisch und Fisch sind nach einem Drittel zu Ende. Danach folgen Mehlspeisen von salzig bis süß“, erzählt Wolf. Je höher der Sättigungsgrad, desto besser, lautete die Devise, zumindest bei den schwer arbeitenden Massen. Rindfleisch, vor allem in gekochter Form, hatte weit mehr Bedeutung als Schweinefleisch.
Rindfleischvielfalt
24 verschiedene Rindfleischspezialitäten wurden im legendären Wiener Hotelrestaurant Meissl & Schaden serviert. Eine damalige Spezialität, der Walter Leidenfrost, Küchenchef im Restaurant „Ludwig van“klar den Vorzug gegenüber Wiener Schnitzel gibt, ist Altwiener Backfleisch: gekochtes Rind, das mit Senf und Kren bestrichen, paniert und gebacken wird. Die Rinder stammten in der Monarchie vor allem aus der ungarischen Tiefebene. Nach dem Ersten Weltkrieg fielen viele Gebiete weg, die zuvor landwirtschaftliche Produkte geliefert hatten. Für Leidenfrost, der nach dem Prinzip „österreichische Küche, neu interpretiert“kocht, ist daher auch Oktopus auf der Karte kein Widerspruch, man denke an die K.u.k.Adria-Gebiete. In den Kriegs- und Nachkriegszeiten herrschte extremste Not, es landete alles Verwertbare, von Krähen bis zu Eichhörnchen, im Topf – selbst dafür gab es Rezepte, wie Autor Peter Peter in „Kulturgeschichte der österreichischen Küche“beschreibt.
Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft fielen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Preise, vor allem für Fleisch. Dies spiegelt sich in populären Kochbüchern wider. Im Thea-Kochbuch von 1959 findet sich noch ein ganzes Kapitel zu Innereien, 1964 fehlte dies bereits, dafür gibt es nun „Ausländische Spezialitäten“wie „Neapolitanische Pizza“oder „Musaka“. Die nächsten Jahrzehnte sind durch ein wachsendes Angebot an Produkten aus industrieller Lebensmittelproduktion gekennzeichnet, selbst gute Restau- rants verwenden Dosenware. Die Gegenbewegung beginnt in der Spitzenküche ab den 1980er-Jahren. Regionale, saisonale Produkte sind – auch wegen der Öko-Bewegung – wieder vermehrt gefragt, besonders in der Spitzengastronomie wird dies konsequent verfolgt. Reitbauer strich im Steirer- eck schon vor mehr als einem Jahrzehnt Meeresfische von der Karte und setzt ganz auf Süßwasserfische: „Am Anfang war die größte Schwierigkeit für mich, mein Team davon zu überzeugen, dass das der richtige Weg ist. Aber wir wollen unsere Landesküche weiterentwickeln.“Dass dies international Erfolg haben kann, beweist die Platzierung seines Lokals auf Rang 10 der San-Pellegrino-Liste der weltbesten Restaurants. Für Leidenfrost wie für Reitbauer ist die Tatsache besonders wichtig, dass es in Österreich eine Vielzahl an Kleinproduzenten gibt, die hervorragende Produkte herstellen. „Vor 30 Jahren haben wir ins Ausland geschaut, heute merkt man, dass immer mehr Leute, die sich für Essen interessieren, überrascht sind, was es in Österreich gibt“, meint Reitbauer.