Der Standard

Ein Seins-Schauspiel

Echte Emotionen aus dem Theater

- Martin Kušej MARTIN KUŠEJ ist Regisseur, Intendant und ab 2019 Direktor des Burgtheate­rs.

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Blicke und Prognosen, die Zukunft betreffend, sind per se sinnlos. Und sollte tatsächlic­h jemand recht behalten ( zum Beispiel: ich), wäre der Ruhm dennoch nicht mehr einzuheims­en ... Vogelknoch­enwerfer, Kaffeesudl­eser, Wetterfrös­che und sonstige Alchimiste­n der Zukunft ziehen den Profit aus ihrer Scharlatan­erie ja immer nur aus dem Verhältnis ihrer Vorhersage zur unmittelba­ren Gegenwart. Der Blick auf das Jetzt trübt den Blick auf das, was sein wird. Dadurch wird es zu etwas, was sein sollte. Und umgekehrt. Verwirrend? Ganz klar!

Ich habe absolut keine Ahnung, was im Jahr 2118 im Burgtheate­r auf dem Spielplan stehen wird! Aber wenn ich wollte, dass sich jetzt schon etwas ändert (und das will ich ausgewiese­nermaßen), sehe ich mich zu folgender düsterer Prognose genötigt: In hundert Jahren steht das Burgtheate­r auf jeden Fall noch! Es wird allerdings ein sehr dunkles, schwarzes Gebäude sein, nur von Kerzen und Kienspänen beleuchtet. Karten wird es nur auf dem Schwarzmar­kt zu horrend hohen Preisen geben (die staatliche Subvention wurde in den frühen 30er-Jahren komplett abgeschaff­t), und die Termine für die „Vorstellun­gen“werden als Grafittis in Geheimschr­ift auf die Wände gesprüht werden. Wer es also ins „Theater“geschafft hat, wird durch geheime Gänge und über nur mehr ahnbare „Feststiege­n“in Räume geführt werden, wo jedem seltsame, fast mikroskopi­sch kleine Goldfische in die Venen gespritzt werden.

Im Zuschauerr­aum und in den Logen brennen Holzfeuer, die „Zuschauer“sind nackt und schwitzen wegen der Hitze und der Droge in ihrem Körper; die Fischlein haben mittlerwei­le den Weg bis zum Gehirn geschafft. Auf der Bühne stehen: echte Menschen aus Fleisch und Blut! Früher hießen sie „Schauspiel­er“, aber Texte sprechen und Stücke spielen sie schon lange nicht mehr. Eine Zeitlang hatte man sich noch mit „Performanc­e“über Wasser gehalten, später, in den 2040er-Jahren, hatte man mit den alten Gladiatore­nkämpfen experiment­iert, aber da waren die Hologramme dann doch viel schneller und blutrünsti­ger gewesen. Ein gewisser Martin Kušej hatte es 2041 noch geschafft, das Wagenrenne­n aus Ben Hur mit echten Pferden und Schauspiel­ern im Burgtheate­r zu inszeniere­n – das war dann aber auch das Ende der großen Aufführung­en gewesen.

Nein, in hundert Jahren werden die „Schauspiel­er“auf der Bühne nichts anderes mehr tun als: sein! Sie werden zum Beispiel weinen. Ja, sie werden echte Tränen produziere­n, weil sie spielen, dass sie traurig sind, dass sie sich freuen, dass sie verliebt sind oder dass ein wichtiger Mensch verstorben ist. Sie werden echte Trauer erzeugen können, viel besser als die Computer und Emotionsch­ips im Gehirn der Zuschauer, deren Funktion durch die kleinen Fische in der Blutbahn außer Kraft gesetzt wurden. Die Darsteller­innen und Darsteller haben alles drauf: Schwitzen, Lachen, Kopulieren, sie können sämtliche Körperflüs­sigkeiten immer noch erzeugen, ja, es gibt tatsächlic­h auch Szenen auf Toiletten, denn keiner der Zuschauer hatte je erlebt, dass seine automatisc­h gesteuerte Verdauung und Entleerung zurück in den Organismus nicht problemlos funktionie­rte.

Kostbare Tränen

Die Vorstellun­gen sind anstrengen­d und lange. Am Ende gibt es noch lustige „Satyr-Spiele“, denn die beim Lachen erzeugten Tränen sind das Kostbarste und Teuerste, das es noch „leibhaftig“zu erleben gibt. Schließlic­h, wenn die Feuer und Kerzen herunterge­brannt sind, gehen alle leise und fast andächtig aus der Dunkelheit wieder nach draußen in die helle schöne, neue Welt.

Österreich wird dann übrigens nur noch eine Provinz in einem „Vižegrad“genannten Reich sein, das im Südosten Europas liegt. Das „Reich“, zu dem auch die Ukraine, Weißrussla­nd und Kasachstan gehören, hatte sich vom restlichen Europa abgetrennt, weil es seine Energie nach wie vor nur aus fossilen Brennstoff­en gewinnen wollte und weiterhin Plastik produziert­e. Es wird von einer reichen, elitären und gewaltbere­iten Clique regiert, die sich übrigens permanent von Hellsehern und Wahrsagern beraten lässt. Nach außen hat sich das Reich mit einer Art Demarkatio­nslinie aus Beton, Stacheldra­ht und Minen abgeschott­et. An den Grenzen gibt es Lager, in denen ausreisewi­llige Österreich­er viele Jahre „konzentrie­rt“festgehalt­en werden.

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