„Ich bin in der Reformgruppe mit Macron und Rutte“
Bundeskanzler Sebastian Kurz grenzt sich gegen Ungarns Premier Viktor Orbán ab. Im EU-Ratsvorsitz will er für Kürzungen bei den Nettoempfängerländern sorgen. Beim Antisemitismus müsse Nulltoleranz gelten.
Standard: Sie haben die EU-Verlässlichkeit der Regierung garantiert. Jetzt gibt es nur ein Thema: die Naziliederaffäre rund um die FPÖ. War es das mit „proeuropäisch“? Kurz: Die Bundesregierung hat sich mit dem Regierungsprogramm ganz klar Leitlinien für die Arbeit in den nächsten fünf Jahren gelegt. Eine proeuropäische Ausrichtung war immer die Bedingung der Volkspartei. Zu etwas anderem wäre ich auch nicht bereit gewesen. Ich bin überzeugt, dass es ein großes Vertrauen in die Ausrichtung der Regierung gibt.
Standard: Nazilieder stehen gegen alles, was Europäer als das Gemeinsame verstehen. Lässt sich das einfach vom Tisch wischen? Kurz: Es wäre auch falsch, es vom Tisch zu wischen. Wenn es solche Vorfälle in Österreich gibt, dann wird mein Ziel immer volle Aufklärung und die volle Härte des Gesetzes für alle Verantwortlichen sein. Wenn dann sogar Politiker betroffen sind, dann muss es darüber hinaus auch politische Konsequenzen geben. Keine Partei ist davor gefeit.
Standard: Auch die ÖVP? Kurz: Ich hatte selber als Bundesobmann der Jungen Volkspartei den Fall, dass es Personen gab, die sich widerwärtig verhalten haben. Wir haben sie sofort aus unserer Bewegung ausgeschlossen. Als Regierung haben wir, was die Vorkommnisse um die Burschenschaft Germania betrifft, auch sofort gehandelt, nämlich ein Auflösungsverfahren gestartet. Insofern kann ich nur sagen: Das, was die Regierung tun kann, das werden wir in solchen Fällen immer nutzen. Den Kampf gegen Antisemitismus habe ich als Staatssekretär und als Außenminister verfolgt, ich werde ihn selbstverständlich auch als Bundeskanzler verfolgen.
Standard: Was, wenn das während Österreichs EU-Vorsitz passiert? Kurz: Jedes Mal, wenn es solche Fälle in unserem Land gibt, gerade mit unserer historischen Verantwortung, ist das ein Imageschaden für unser Land, ganz gleich ob es sich um FPÖ-, SPÖoder ÖVP-Politiker handelt. Ich werde immer dagegen ankämpfen. Es darf in dieser Frage keine Toleranz geben.
Standard: Ist Vizekanzler und FPÖChef Heinz-Christian Strache klar, dass er dringenden Handlungsbedarf hat? Kurz: Er hat in den letzten Jahren immer wieder, wenn es solche Vorfälle gab, Personen aus der Partei ausgeschlossen, die sich etwas zuschulden kommen lassen haben. Er hat beim Akademikerball klar seinen Weg skizziert, nämlich gegen Antisemitismus anzukämpfen. HeinzChristian Strache hat gesagt, wer diesen Weg nicht mitgehen möchte, der soll aufstehen und gehen. Und er hat angekündigt, eine Historikerkommission einzusetzen, um die Geschichte der FPÖ, des Dritten Lagers, aufzuarbeiten. Ich halte das für sinnvoll. Die SPÖ und die ÖVP haben das schon gemacht. Bei der FPÖ ist das notwendig. Die Experten sollen unabhängig sein, es ist Aufgabe einer Partei, selbst ihre Geschichte aufzuarbeiten.
Standard: Nicht nur wegen der
FPÖ gibt es Zweifel, auch wegen Ungarns Premier Viktor Orbán, der EU-Partnern Solidarität verweigert. Kritiker sagen, Sie stünden ihm zu nahe. Wie sehen Sie das? Kurz: Es ist offensichtlich, was hier geschieht, wenn Oppositionsparteien behaupten, Viktor Orbán sei mein erster Staatsgast gewesen. Es wird mit Absicht behauptet, um mich in eine ganz bestimmte Richtung zu positionieren. Es ist einfach eine Falschinformation, parteipolitisch motiviert.
Standard: Also gibt es diese Nähe zu Orbán so gar nicht? Kurz: Faktum ist, meine erste Reise ging unmittelbar nach der Angelobung der Regierung ganz bewusst nach Brüssel. Meine erste bilaterale Auslandsreise ging zum französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron nach Paris. Dann habe ich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in Berlin getroffen. Mein erster Gast in Österreich war am 1. Jänner der niederländische Premierminister Mark Rutte.
Standard: Beim Neujahrskonzert. Kurz: Und zu einem Arbeitstreffen hier in diesem Raum, das zeitlich gesehen sogar ausführlicher war als mit Viktor Orbán. Mark Rutte ist ein Liberaler, dem ich mich in sehr, sehr, sehr vielen Fragen nahe
fühle, mit dem wir in ganz vielen Bereichen in der EU an einem Strang ziehen werden. Das ist die Realität. Man muss sich fragen, ob manche die Realität interessiert oder ob es nur darum geht, mich nach weit rechts zu positionieren.
Standard: In der FAZ haben Sie gesagt, wenn man in Europa etwas verändern will, dann braucht man eine gute Vernetzung. Gilt das auch für Macron, früher Sozialist? Kurz: Ich bin Regierungschef, ich arbeite mit allen Politikern in Europa konstruktiv zusammen. Ich schätze es sehr, dass Emmanuel Macron die EU reformieren möchte. Ich sehe ihn hier als wichtigen Partner, um die notwendigen Veränderungen zu erreichen. Es ist für mich eine noch größere Selbstverständlichkeit, mit Regierungschefs unserer Nachbarstaaten zusammenzuarbeiten, gleich welcher Partei sie angehören.
Standard: Sie wollen also gleichwertige Beziehungen mit allen? Kurz: Das war mein Ziel vom ersten Tag meiner Amtszeit an. Es geht darum, Österreich in der Europäischen Union zu vertreten und die Union zum Positiven mitzugestalten. Wenn man das ernst nimmt, muss man sehr viel Zeit investieren, um eine gute Basis mit allen Playern sicherzustellen.
Standard: Was beim Orbán-Besuch auffiel: Die größten Differenzen gibt es wohl beim EU-Budgetrahmen. Ungarn ist, so wie Polen,
einer der größten Nettoempfänger, mit mehr als fünf Milliarden Euro. Kurz: Ich habe die Differenzen bei jeder sich bietenden Gelegenheit angesprochen. Man muss das jeweils über die verschiedenen Sachfragen betrachten. Österreich hat bei vielen verschiedenen Themen ganz andere Positionen als etwa Ungarn. Wenn wir über Konzepte der europäischen Verteidigungspolitik reden, gibt es eine starke Nähe zu den anderen neutralen Staaten. Wenn wir über EUBudgetpolitik sprechen, dann sind unsere Partner in der Union die Nettozahlerstaaten und nicht die Nettoempfänger.
Standard: Also Deutschland, die Niederlande, Frankreich. Kurz: Und wenn wir über Migrationspolitik sprechen, sind unsere Partner all jene, die dafür eintreten, die EU-Außengrenzen besser zu schützen.
Standard: Also in dem Fall auch Ungarn und Frankreich. Kurz: So ist es. Wenn man differenzierter über die verschiedenen Themen sprechen würde, dann würde man rasch merken, dass es mit den Visegrád-Staaten einen starken gemeinsamen Willen gibt, die EU-Außengrenzen zu schützen. Das ist eine Linie, mit der ich vor einigen Jahren noch sehr al- lein war. Mittlerweile hat sich das geändert, inzwischen sehen das viele andere genauso, Emmanuel Macron zum Beispiel.
Standard: Österreich trat 1995 bei als Land, das zu Kerneuropa gehören wollte. Geht die Regierung diesen von Alois Mock und Franz Vranitzky geprägten Kurs weiter? Kurz: Ja, natürlich, deshalb habe ich mich zuletzt für die verstärkte gemeinsame Verteidigungspolitik eingesetzt. Aber wenn wir als Union erfolgreich sein wollen, müssen wir die Spannungen abbauen. Da ist mein großes Ziel, dass wir Brückenbauer sind zwischen den unterschiedlichen Machtzentren, die es derzeit gibt.
Standard: Was haben Sie als EURatsvorsitzender ab Juli vor? Kurz: Ich werde unseren Ratsvorsitz ganz bewusst nutzen, um Veränderungen in der Europäischen Union voranzutreiben, die ich für notwendig halte. Das ist zum Ersten ein Fokus auf mehr Subsidiarität. Ich glaube, dass die Fragestellung, ob es insgesamt mehr oder weniger Europa braucht, die falsche ist. Die Frage muss sein, in welchen Bereichen es mehr Europa braucht und in welchen Bereichen weniger. In den großen Fragen wie Sicherheits- und Verteidigungspolitik brauchen wir stärkere Zusammenarbeit. Gleichzeitig muss sich die Union aber in kleinen Fragen zurücknehmen, bei denen die Regionen oder die Staaten besser entscheiden können.
Standard: Stichwort EU-Reform. Kurz: Beim EU-Budget sind wir den Niederlanden näher. Wir drängen, wie die Dänen auch, darauf, dass mit Mitteln der Steuerzahler sparsamer umgegangen werden muss, wenn die Union durch den Brexit kleiner wird, die Ressourcen begrenzt sind. Wir haben derzeit die Situation, dass sehr viel Geld in die osteuropäischen Staaten fließt. Es wird teilweise infrage gestellt, ob das Geld überhaupt bei den Richtigen ankommt. Gleichzeitig wird in Westeuropa geklagt, wie antieuropäisch diese Staaten denn seien. Wir haben vor, in den nächsten Jahren hunderte Millionen an Annäherungsunterstützung in die Türkei zu überweisen, obwohl in der Türkei Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Man muss den Mut haben, so etwas infrage zu stellen.
Ich werde selbstverständlich immer gegen Antisemitismus ankämpfen. Es darf in dieser Frage keine Toleranz geben.
Standard: Bei den größten Nettoempfängern, Polen und Ungarn, wird deutlich gekürzt? Kurz: Auch wenn das manchen nicht gefällt, in diesem Punkt gibt es eine starke Meinungsverschiedenheit zwischen Viktor Orbán und mir. Am Ende wird das nicht meine Entscheidung alleine sein. Aber ich bin mit Macron und Rutte und einigen anderen in der Reformgruppe derer, die darauf drängen werden, dass sparsamer mit dem Geld der europäischen Steuerzahler umgegangen wird. Wir werden bei den Verhandlungen zum EU-Budgetrahmen stark die Position der Nettozahler vertreten.
Meine Nähe zu Orbán wird mit Absicht behauptet, um mich weit rechts zu positionieren, rein parteipolitisch motiviert.
SEBASTIAN KURZ (31), seit 19. Dezember 2017 Bundeskanzler, davor Außenminister und Staatssekretär für Integration, wurde im Juli 2017 ÖVP-Chef. pLangfassung dSt.at/International