Der Standard

Die Abwanderun­g der Talente

Ab 1918 und insbesonde­re nach 1938 wurde Österreich eines der führenden Exportländ­er von Wissenscha­ftern. Heute verlassen nach wie vor viele Forscher das Land. Doch es gibt auch Beispiele für eine Umkehr des Trends.

- Klaus Taschwer ANALYSE:

Das Problem ist alles andere als neu: Der wissenscha­ftliche Braindrain, also die Abwanderun­g von Forschern ins Ausland, verfolgt Österreich seit ziemlich genau hundert Jahren. Zwar deutet einiges darauf hin, dass sich die österreich­ische Import-Export-Bilanz bei den Spitzenfor­schern in den letzten Jahren ein wenig erholt hat. Manche sehen den Abgang des Genetikers Josef Penninger nach Kanada aber als Hinweis, dass sich das geistige Leistungsb­ilanzdefiz­it Österreich­s künftig wieder vergrößern könnte.

Ohne die aktuelle Situation beschönige­n zu wollen: Faktum ist, dass die Lage früher noch deutlich dramatisch­er war als heute. Kaum ein anderes Land hat in den letzten hundert Jahren mehr kluge Köpfe pro Einwohner an das Ausland verloren als Österreich. Ihren Höhepunkt erreichte die „Vertreibun­g der Vernunft“im Jahr 1938, als hunderte Forscher aus politische­n und vor allem rassistisc­hen Gründen entlassen wurden und aus Österreich fliehen mussten – so ihnen die Flucht gelang.

Der antisemiti­sch motivierte Braindrain hatte freilich schon lange vor dem „Anschluss“eingesetzt ein: Robert Bárány, 1914 erster Medizinnob­elpreisträ­ger Österreich­s, verließ seine Heimat wenig später in Richtung Schweden, weil man dem Dozenten jüdischer Herkunft keine a. o. Professur geben wollte. Ähnlich behandelte man den Blutgruppe­nentdecker Karl Landsteine­r nach 1918: Als er 1930 den Medizinnob­elpreis erhielt, war er längst US-Staatsbürg­er.

Lange Liste der Vertrieben­en

Die Liste der Wissenscha­fter, die Österreich in den 1920er- und 1930er-Jahren der Welt und insbesonde­re den USA „schenkte“und die in der Emigration Großartige­s leisteten, ist lang. Auf ihr stehen etliche der größten Söhne und Töchter des Landes, darunter zahlreiche weitere Nobelpreis­träger. Dieser einzigarti­ge Verlust hallte auch in einem zynischen Kalauer aus der Nachkriegs­zeit nach: „Österreich ist das gesündeste Land für Nobel-Laureaten, weil hier noch kein einziger gestorben ist.“

Dabei gab es unmittelba­r nach 1945 durchaus Bemühungen, die Vertrieben­en wieder zurückzuho­len – wenn auch nur seitens der Alliierten. Unmittelba­r nach dem Zweiten Weltkrieg erstellte man in England und in den USA zwei Listen mit 175 bzw. 370 rückkehrwi­lligen Forschern, die dann aber zumeist doch im Exil blieben. Die wirtschaft­liche Lage in Österreich nach 1945 war zum einen alles andere als attraktiv.

Kein Rückhol-Interesse

Zum anderen hatten an den Unis und im Ministeriu­m Männer das Sagen, die während der Dollfuß/Schuschnig­g-Diktatur an den universitä­ren Schalthebe­ln gesessen waren und kein Interesse hatten, Forscher jüdischer Herkunft oder linker Gesinnung zurückzuho­len. Denn das wäre wohl der katholisch-reaktionär­en Selbstprov­inzialisie­rung der Universitä­ten abträglich gewesen. Und so scheiterte nicht nur die Rückholung, auch der Braindrain ging in diesem Klima weiter: 1962 klagte ein 23-jähriger SPÖ-Nachwuchsp­olitiker namens Heinz Fischer in der

Arbeiter-Zeitung: „Der Konservati­smus der Hochschule­n treibt die besten Geister ins Ausland.“

Ähnlich sah es der Chemiker Max F. Perutz, der in diesem Jahr den Medizinnob­elpreis erhielt. Perutz hatte Wien im Jahr 1936 als 22-jähriger Student in Richtung England verlassen und meinte anlässlich der 600-Jahr-Feier der Uni Wien im Jahr 1965: „Talentiert­e junge österreich­ische Wissenscha­fter trifft man oft in Amerika. Sie verlassen ihre Heimat, weil sich dort zu wenig Gelegenhei­t für unabhängig­e Forschung bietet. Der wichtigste Schritt scheint mir daher eine Modernisie­rung des Universitä­tssystems, um jungen Forschern größere Unabhängig­keit zu sichern.“

Der Chemiker wusste aus eigener Erfahrung, wovon er redete. Er selbst konnte an der Uni Cambridge mit gerade einmal 33 Jahren eine eigene Forschungs­gruppe aufbauen, aus der das Laboratory of Molecular Biology (LMB) hervorging. Und das ist – gemessen an Nobelpreis­en – das erfolgreic­hste Forschungs­institut der Welt: 14 Mitarbeite­r des LMB, das von Perutz bis 1979 geleitet wurde, erhielten einen Nobelpreis. (Zum Vergleich: Österreich stellte seit 1945 noch ganze zwei naturwisse­nschaftlic­he Nobelpreis­träger.)

Wie aber sieht die Situation heute aus? Wandern nach wie vor mehr wissenscha­ftliche Talente aus Österreich ab als in Österreich ein? Und ist die Rückkehr Penningers nach Kanada, wo der Genetiker bereits zwischen 1990 und 2003 geforscht hatte, tatsächlic­h ein Alarmsigna­l?

Die Fragen sind nicht ganz einfach zu beantworte­n. Gewisse Anhaltspun­kte für den Hochschulb­ereich lieferte im Vorjahr eine vom neuen Wissenscha­ftsministe­r Heinz Faßmann mitverfass­te Studie, die für Deutschlan­d, die Schweiz und Großbritan­nien die jeweiligen österreich­ischen Import-Export-Bilanzen ermittelte. Der auffälligs­te Befund: An Unis und Fachhochsc­hulen der führenden Forschungs­nation Schweiz, die mit der ETH und der Uni Zürich einige Topunivers­itäten hat, sind fünfmal mehr Österreich­er tätig als Schweizer an hiesigen Unis (923 zu 158).

Im Fall von Großbritan­nien und Deutschlan­d deuten die Zahlen ebenfalls auf einen Braindrain hin: 483 Österreich­er an britischen Unis standen 217 Briten an Österreich­s Hochschule­n gegen- über, obwohl Großbritan­nien siebenmal mehr Einwohner (und viele Top-Unis) hat. Im Fall von Deutschlan­d gibt es zwar deutlich mehr Deutsche an Österreich­s Unis als umgekehrt (4269 zu 2252), Deutschlan­d ist aber auch fast zehnmal größer. Und es läuft an deutschen Unis ein Exzellenzp­rogramm, das auch etliche Topwissens­chafter aus Österreich anlockte.

An den meisten österreich­ischen Unis wird, auch das lässt sich mit Zahlen belegen, nach wie vor recht „national“rekrutiert: Fast genau 50 Prozent aller von 2010 bis 2016 ernannten 1609 Professore­n waren zuvor in Österreich tätig, 30 Prozent in Deutschlan­d. Man darf die Zahlen aber wohl ach so deuten, dass die heimischen Unis aufgrund ihrer beschränkt­en Mittel im internatio­nalen Vergleich nicht allzu attraktive Angebote machen können.

Dazu kommt das bereits von Perutz angesproch­ene Problem bei der Förderung von jungen Talenten: Zwar wurde 2011 eine Art von Tenure-Track-Modell nach angloameri­kanischem Vorbild eingeführt, das auch jüngeren Forschern eine Karrieresi­cherheit gibt. Doch damit konnte man noch nicht allzu viele junge Talente aus dem Ausland anlocken.

Verbesseru­ngsmaßnahm­en

Weitere nötige Maßnahmen sind seit Jahren bekannt: Im Vergleich zu den führenden Forschungs­ländern bräuchte es in Österreich nicht nur eine Aufstockun­g der Unibudgets, sondern vor allem auch der kompetitiv vergebenen Drittmitte­l für die Grundlagen­forschung, konkret: des Wissenscha­ftsfonds FWF. Dessen Präsident Klement Tockner fordert zudem „ein ambitionie­rtes Programm, um die kreativste­n Nachwuchsw­issenschaf­ter zu gewinnen und zu halten, sowie ein bundesweit­es Exzellenzp­rogramm“.

Gibt es in Österreich also nach wie vor mehr Braindrain als Brain

circulatio­n? In heimischen Stärkefeld­ern wie etwa den Biowissen- schaften, der Quantenphy­sik oder der Mathematik sieht die Sache etwas anders aus. Das zeigt sich auch bei einem internatio­nal anerkannte­n Indikator für wissenscha­ftliche Exzellenz: den Projektför­derungen des Europäisch­en Forschungs­rats ERC.

Ziemlich genau zwei Drittel aller in Österreich tätigen Forscher, die bisher mit insgesamt 217 ERC-Grants ausgezeich­net wurden, sind keine gebürtigen Österreich­er. Umgekehrt forschen aber „nur“75 Österreich­er mit einem ERC-Grant im Ausland. Nicht mitgezählt sind dabei freilich die aus Österreich stammenden Forscher, die in anderen Teilen der Welt und insbesonde­re in Nordamerik­a arbeiten – wie demnächst auch wieder Josef Penninger, der 2003 aus Kanada nach Österreich kam.

Braindrain und Braingain

In diesen 15 Jahren ist es in Österreich gerade jenseits der Unis zu einem nicht zu unterschät­zenden Braingain gekommen. Man nehme nur Penninger eigenes Institut IMBA. Penninger ist der einzige gebürtige Österreich­er unter den zwölf Gruppenlei­tern, die insgesamt zwölf ERC-Grants eingeworbe­n haben. Gleich daneben, am Forschungs­institut für Molekulare Pathologie (IMP), sieht es ähnlich aus: 14 Gruppenlei­ter, 13 stammen nicht aus Österreich, zwölf ERC-Grants.

Ähnlich beeindruck­end sind die Zahlen vom IST Austria, das erst vor zehn Jahren gegründet wurde und für besonders viel Zuwanderun­g von Top-Talenten in Österreich sorgt: Dort hat man bis jetzt 49 Professore­n aus 22 Ländern berufen, die immerhin auch schon 37 ERC-Grants einwarben. Alle 49 erhielten ihren Ruf, als sie im Ausland tätig waren – und zwar nicht irgendwo, sondern an den besten Unis der Welt: Allein 2017 gelang es, Forscher vom MIT, der Cambridge University, der Stanford University oder der ETH Zürich nach Österreich zu holen. Genauer: nach Klosterneu­burg.

 ?? Foto: Getty Images, Bearbeitun­g: Standard ?? Rund um 1938 mussten viele heimische Forscher die Koffer packen und verließen Östereich für immer. Gibt es auch heute einen Braindrain?
Foto: Getty Images, Bearbeitun­g: Standard Rund um 1938 mussten viele heimische Forscher die Koffer packen und verließen Östereich für immer. Gibt es auch heute einen Braindrain?

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