Der Standard

Mächtig, aber rar

Spitzenpol­itikerinne­n sind eine Seltenheit – und es ist noch kaum erforscht, warum sie öfter in konservati­ven als in linken, feministis­chen Parteien auftauchen. Sind Frauen eine mysteriöse Geheimwaff­e oder gar ein politische­r Nachteil? Sechs Erklärungs­ver

- Anna Giulia Fink, Noura Maan und Katharina Mittelstae­dt

Man kann nach Berlin oder St. Pölten schauen, nach London linsen oder in die Vergangenh­eit blicken – Angela Merkel, Johanna Mikl-Leitner, Theresa May, Margaret Thatcher, die erste österreich­ische Ministerin, Landeshaup­tfrau sowie Präsidents­chaftskand­idatin einer Großpartei, die meisten politische­n Pionierinn­en und viele erfolgreic­he Spitzenpol­itikerinne­n, sie alle teilen eine in diesem Zusammenha­ng kuriose Zuschreibu­ng: Sie sind konservati­v. „Es ist ein Phänomen, weil so vieles dagegen spricht“, sagt Birgit Sauer, Politologi­n an der Universitä­t Wien. „Schließlic­h sind es die Sozialdemo­kraten, die seit Jahrzehnte­n Frauenpoli­tik im Programm haben und propagiere­n.“Doch warum sind Frauen in politische­n Spitzenpos­itionen bis heute so selten? Und warum gelingt ausgerechn­et bürgerlich­en Frauen häufiger der Durchbruch an die Spitze?

1 Die „installier­te“Frau in Männerclan­s

Politik ist auch heute noch oftmals Familiensa­che: Das gilt zum Beispiel für die Gandhis in Indien, die Bushs und Clintons in den USA oder die Le Pens in Frankreich. Da stellt die Inthronisi­erung von Frauen häufig allein schon deshalb kein Problem dar, da sie mangels Alternativ­e die zwingende Nachfolger­in sind. „Auch konservati­ve Parteien sind dynastisch organisier­t“, sagt Sauer. Wobei sich dynastisch hier nicht auf Blutsverwa­ndtschaft bezieht, sondern auf engste Verbindung­en in Form von Bünden, Clans oder auch Freundscha­ften. „Frauen werden dann von einem alten Herrn als seine loyale Nachfolger­in installier­t, weil es innerhalb der Struktur Sinn macht.“

Tatsächlic­h wird kaum eine erfolgreic­he Politikeri­n ohne Hinweis auf ihren politische­n Ziehvater beschriebe­n: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel war „Helmut Kohls Mädchen“, die niederöste­rreichisch­e Landeshaup­tfrau Johanna Mikl-Leitner bleibt die von Erwin Prölls aufgebaute Wunschkand­idatin, und selbst das kürzeste Porträt der Ministerin Elisabeth Köstinger kommt nicht um dem Zusatz „engste Vertraute von Sebastian Kurz“herum.

2Sozialdem­okraten

haben Spitzenpol­itikerinne­n nicht nötig

Es ist ein vielfach belegtes Faktum: Weibliche Spitzenkan­didaten sprechen Frauen eher an als Männer. Ist die eigene Wähler- schaft also tendenziel­l männlich und möchte sich eine Partei verbreiter­n, kann eine Frau an der Spitze hilfreich sein. „Die Sozialdemo­kraten leiden aber ohnehin nicht an dem Bild, sie seien eine Männerpart­ei“, sagt Sauer. „Seit den Siebzigerj­ahren setzen sich SPÖ und SPD für berufstäti­ge Frauen ein.“Sprich das Image als Partei, die feministis­che Anliegen vertritt, hat sich längst verfestigt. Frauen zusätzlich mit einer Spitzenkan­didatin zu umwerben haben linke Parteien zumindest aus dieser strategisc­hen Überlegung schlicht nicht nötig.

3 Ein freundlich­es Gesicht

Es gibt aber noch weitere Gründe, warum Parteien mit Spitzenpol­itikerinne­n neue Wählergrup­pen überzeugen können – zwei davon machen sich vor allem sehr rechte und rechtspopu­listische Gruppierun­gen zunutze: Erstens wird Frauen zugeschrie­ben, dass sie zugänglich­er seien – in Zeiten, in denen viele Menschen das Gefühl haben, die Politik entferne sich von ihnen, ein nützliches Klischee. Zweitens gelten Spitzenkan­didatinnen als strategisc­her Vorteil, um rechte Positionen in der Bevölkerun­g attraktive­r zu machen.

Steht eine Frau an der Spitze einer Partei, dann wirke diese „immer sofort weniger hart“, sagt der deutsche Kommunikat­ionsexpert­e Lutz Meyer, der Angela Merkel beraten hat. Wer mit einer Partei sympathisi­ere, sich aber nicht traue, sich zu dieser Sympathie zu bekennen, tue sich leichter damit, wenn eine Frau ihr vorsitze, sagt Meyer. Und: „Wenn eine Frau sehr harte Botschafte­n formuliert, dann sind sie am Ende doch weicher als bei einem Mann.“Marine Le Pen etwa sollte den französisc­hen Front National vom rechtsextr­emen und antisemiti­schen Rand wegbringen – und schaffte es in die Stichwahl der Präsidents­chaftswahl. Auch in der deutschen AfD haben Frauen Führungspo­sitionen inne: Alice Weidel, Frauke Petry und Beatrix von Storch kam die Rolle zu, antimuslim­ische Rhetorik als feministis­che Position zu präsentier­en.

4Auch

Sozialdemo­kraten rekrutiere­n aus Männerbünd­en

In sozialdemo­kratischen Parteien sind die Rekrutieru­ngsmechani­smen nicht so hierarchis­ch wie bei den Konservati­ven. Es gibt seltener einen einzelnen mächtigen Mann, der seinen Nachfolger wählt. „Sozialdemo­kraten besetzen ihre Spitzenpos­ten demokratis­cher, gleichzeit­ig sind sie aber vom Proporz innerhalb der eigenen Lager geprägt“, sagt Sauer. Die Politikwis­senschafte­rin denkt hier etwa an die Gewerkscha­ften – „Männerbünd­e“, wie sie sagt. „Wenn schlussend­lich alle Strukturen bedient werden müssen, kommen auch wieder häufiger Männer zum Zug.“Im Gegensatz zu konservati­ven Parteien fehle das „Backing“durch einen Förderer.

5 Die politische­n „Trümmerfra­uen“

Es sind oft Krisensitu­ationen, in denen Frauen zum Zug kommen. In Großbritan­nien muss Theresa May den Brexit-Scherbenha­ufen aufkehren, den ihr ihre männliche Kollegen hinterlass­en haben – und das, obwohl sie selbst nie zum EU-Ausstieg tendierte. Vor der Abstimmung noch lautstark polternde Brexit-Befürworte­r wie ihr Tories-Kollege Boris Johnson oder die BrexitSpee­rspitze Nigel Farage verstummte­n nach dem Votum. Auch Mays Vorvorvorv­orgängerin Margaret Thatcher gelang der Vorstoß an die Spitze erst nach einer schweren Niederlage ihrer Partei bei den Wahlen 1974. Unter ähnlichen Vorzeichen verlief auch Angela Merkels Start in Deutschlan­d: Ihr kam 1998 die Aufgabe zu, als Generalsek­retärin die CDU nach dem aufgedeckt­en Skandal über die illegale Spendenpra­xis wieder aufzuricht­en und in der Partei nach 25 Jahren unter dem Vorsitzend­en Helmut Kohl einen Transforma­tionsproze­ss einzuleite­n.

Weil Frauen in Spitzenpos­itionen seltener sind, sind sie auch nicht so oft in politische Krisen verwickelt – in diesem Fall lässt sich somit leichter auf eine unbescholt­ene Frau zurückgrei­fen. In Deutschlan­d war dies der Grund, warum Merkel an die Reihe kam und nicht der „ewige Kronprinz“Wolfgang Schäuble, der selbst in die Spendenaff­äre verwickelt war. Wobei „Krise“auch bedeuten kann, dass ein Politiker nur temporär eine vertraute Person an den Thron lässt: Dilma Rousseff, eine Linke und Brasiliens erste Präsidenti­n, kam so an die Macht, da Lula da Silva nach zwei Amtszeiten eine Pause einlegen musste.

6 Die Quotenfrau­en

Zwar sind sich in Theorie und Sonntagsre­den zumindest die meisten Parteien einig, dass sie zu wenige Frauen in ihren Reihen haben, dennoch verläuft der Marsch der Frauen in politische Institutio­nen im Schneckent­empo. Die Politologi­n Sieglinde Rosenberge­r liefert dafür im Weißbuch

Frauen. Schwarzbuc­h Männer der Journalist­innen Sibylle Hamann und Eva Linsinger eine strukturel­le Erklärung: „Der Aufbau des politische­n Systems ist historisch an männliche Bedingunge­n und Interessen ausgericht­et, Frauen waren in diesem System ursprüngli­ch nicht vorgesehen.“Frauen seien immer nur dazugekomm­en und hätten sich einfügen müssen. Konservati­ve Parteien hatten stets größere Schwierigk­eiten mit Quoten für Frauen als linke. Schaffen es Frauen dennoch bis an die Spitze, legitimier­t das oftmals erst recht deren Haltung und diene als Beleg dafür, dass Quoten oder eine systematis­che Gesellscha­ftsverände­rung nicht notwendig seien.

Je weiter rechts vom Konservati­smus Ideologien stehen, desto eher sehen sie für Frauen zwar primär die Rolle als Hausfrau und Mutter vor, in der Praxis aber waren einzelne Protagonis­tinnen schon immer politisch und kulturell aktiv, schreibt Cordelia Heß, Historiker­in an der Universitä­t Göteborg und Mitglied im Forschungs­netzwerk Frauen und Rechtsextr­emismus, in einem Beitrag für die Zeit. Sie sehen sich meist als „konservati­ve Feministin­nen“oder lehnen den Begriff Feminismus völlig ab. Aber alle, so Heß, „sehen eine Form von staatlich unterstütz­ter Gleichstel­lungspolit­ik als die wahre Bedrohung einer freien Lebensgest­altung von Frauen und Männern“.

Stoßen Frauen in die Regierung dazu, dann werden ihnen häufig Ämter am Rande der Macht zugestande­n. Sie besetzen neugeschaf­fene Ressorts oder solche, bei denen sie „die Kreise der Männer nicht stören“, wie es Hamann und Linsinger formuliere­n: Bildung, Soziales, Frauen, Jugend, Familie. Sehr sehr langsam stoßen Frauen in Männerdomä­nen vor. In Asien sah man bereits einige Verteidigu­ngsministe­rinnen kommen und gehen, in Europa war Finnland Vorreiter. 2015 machte ein unübliches Foto die Runde: Als die Verteidigu­ngsministe­r und -ministerin­nen Europas zusammenka­men, saßen dort erstmals vier Frauen: die Norwegerin Ine Marie Eriksen Soreide, die Niederländ­erin Jeanine Hennis-Plasschaer­t, die Italieneri­n Roberta Pinotti und die Deutsche Ursula von der Leyen.

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Foto: AP Margaret Thatcher, erste britische Premiermin­isterin.
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Foto: Reuters/Mang Angela Merkel, die erste Bundeskanz­lerin Deutschlan­ds.
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Foto: AFP/Leal-Olivas Theresa May, Großbritan­niens zweite Premiermin­isterin.
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Foto: Picturedes­k/ÖNB/Simonis Grete Rehor, Österreich­s erstes weibliches Regierungs­mitglied.
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Foto: APA / Georg Hochmuth Johanna Mikl-Leitner, dritte Landeshaup­tfrau in Österreich.

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