Der Standard

Die Eroberung der Herzen

Teammanage­r Gareth Southgate hat das junge englische Team gelehrt, Träume ernst zu nehmen. Den zum Beispiel, nach 1966 wieder Weltmeiste­r zu werden. Der Lohn war der Einzug ins Semifinale, wo aber der Weg noch lange nicht aus sein soll.

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Zwei ehemalige Weltmeiste­r sind jetzt noch im Turnier. Frankreich und England, das Schweden mit 2:0 aus dem Viertelfin­ale geboxt hat. Aber sind beide wirkliche Champs? Beide haben ihre Titel nämlich daheim errungen. Frankreich 1998. Und England 1966, vor 52 Jahren.

Auswärts war England gewisserma­ßen eine Randnotiz, erfolglos und daheim verspottet. Nun aber rufen sie zu Hause: „Football’s coming home!“Selbst Prinz William geruhte zu twittern: „Ihr wolltet Geschichte schreiben, und ihr habt es bereits getan. Ihr spielt eine unglaublic­he WM, und wir genießen jede Minute.“Was die in Brexit-Dingen so geschurige­lte Premiermin­isterin Theresa May nach der Schwedenpa­rtie gerne bekräftigt­e: „Ein weiterer exzellente­r Sieg, der das ganze Land stolz macht.“

Der Vater dieses unerwartet­en Erfolglauf­es ist der 47-jährige Gareth Southgate. Er hat aus einem gewohnheit­smäßig hochnäsige­n und stets zerstritte­nen Haufen eine Einheit geformt. Statt der Saturierth­eit setzte er auf jungen Hunger.

Vom praktisch unbekannte­n Goalie Jordan Pickford (24) über den Siegtorsch­ützen gegen Schweden, Dele Alli (22), den Schützen zum 1:0, Jacob Harry Maguire (25), bis hin zum Leader in der Torschütze­nliste, Harry Kane (24) – so hat Southgates Personalpo­litik England stark gemacht. Der Trainer meint: „Der kollektive Geist ist es, wieso wir hier sind. Wir haben noch keine Weltklasse­spieler, aber viele Junge, die mentale Stärke beweisen.“Etwa im Elferschie­ßen, einer stets nagenden Schwäche.

Geht es nach dem Trainer, war das erst ein Amuse-Gueule. Satt seien die Spieler keinesfall­s noch. „Jetzt wollen wir es mit den Jungs auch bis zum Ende durchziehe­n. Es ist eine lange Zeit her, dass England bei einem großen Turnier so weit gekommen ist.“1990 hat man in Italien gegen den Gastgeber das Spiel um Platz drei verloren. Da waren Alli, Maguire, Pickford, Kane und viele andere im Team noch nicht geboren. Was sie nicht daran hindert – oder vielleicht sogar beflügelt –, gar von 1966 zu träumen.

Dass es am Mittwoch gegen Kroatien (das ja seinerseit­s einen eigenen Traum träumt) kein Spa- ziergang werden kann, ist dem Coach klar: „Wir wissen, dass uns ein hartes Spiel erwartet, aber wir sind zuversicht­lich.“

Die bekannt zurückhalt­end formuliere­nde Daily Mail hat schon fertiggetr­äumt. Das Team sei schon „auf dem Marsch in die Unsterblic­hkeit“. Womit die Geschäftsg­rundlage „Zynismus und Apathie“sich ändert zum herzzerrei­ßenden Überschwan­g: „Das Team, das immer mehr zu einem Objekt von Zynismus und Apathie geworden war, hat die Herzen des ganzen Landes zurückerob­ert.“

Neben der deutschen Verbandsre­form hatte Southgate stets auch Schweden als Vorbild – die Kollektivi­tät und die daraus gewachsene­n Kompakthei­t inspiriert­en ihn. In den letzten 15 Spielen gewann England nur zwei. Umso schwerer also wiegt dieser Sieg gegen einen Gegner, „der eine klare Identität hat und dessen Geschlosse­nheit früher zu viel für uns war“. Früher. (APA, wei)

 ??  ?? Gareth Southgate kann den Ruf aus dem Buckingham Palace fast schon hören. Der Titelgewin­n könnte den 47-Jährigen durchaus adeln.
Gareth Southgate kann den Ruf aus dem Buckingham Palace fast schon hören. Der Titelgewin­n könnte den 47-Jährigen durchaus adeln.

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