Rücktritt von Boris Johnson gefährdet Mays Brexit-Pläne
Minister kehren Regierung aus Protest gegen weichen EU-Austritt den Rücken
London – Er galt als wichtigster Brexit-Hardliner im britischen Kabinett und bezeichnete die neuen Brexit-Pläne von Premierministerin Theresa May als „Scheißhaufen“. Nun reichte der britische Außenminister Boris Johnson am Montag wegen des Streits über den Brexit-Kurs in der Regierung seinen Rücktritt ein – und das mitten in der heikelsten Phase der Verhandlungen mit Brüssel über den Austritt aus der Staatengemeinschaft. Wenige Stunden zuvor hatte schon Brexit-Minister David Davis wegen des Kurswechsels der Regierung hin zu einem sanfteren Austritt seinen Hut genommen.
Für May könnte es nun eng werden, weil immer mehr Konservati- ve aus den Reihen der harten Brexit-Anhänger gegen den neuen Kurs rebellieren. Für den schlimmsten Fall wurde mit einer Vertrauensabstimmung gegen sie im Parlament gerechnet. Boris Johnson war bisher insgeheim schon als potenzieller Nachfolger für den Fall gehandelt worden, dass May scheitert.
Die Premierministerin selbst verteidigte am Montag ihr Ziel, weiterhin enge Beziehungen zur EU zu pflegen. Es ist der „richtige Deal für Großbritannien“, betonte sie. London würde sich aber auch auf das Szenario vorbereiten, dass Großbritannien 2019 ohne Vereinbarung mit der EU ausscheidet. (red)
Das erste Statement war so dürr, dass kurz Verwirrung darüber herrschte, ob es überhaupt echt sei. „Diesen Nachmittag hat die Premierministerin den Rücktritt von Boris Johnson als Außenminister akzeptiert. Ein Ersatz wird in Kürze bekanntgegeben“, teilte die Downing Street Nr. 10 mit. Die Länge des Kommuniqués dürfte aber im umgekehrten Verhältnis zu den Auswirkungen stehen. Hatte der überraschende Amtsverzicht von BrexitMinister David Davis in der Nacht auf Montag noch als relativ kleines, für die britische Regierung verkraftbares Ereignis gegolten, löst jener Johnsons ein größeres Erdbeben in London aus.
Immerhin war der 54-jährige ehemalige Bürgermeister von London der mit Abstand gewichtigste noch in der Regierung befindliche Vertreter des Flügels der Konservativen, die einen möglichen klaren Schnitt mit der EU fordern. Auch war er der letzte verbleibende Vertreter der Regierung, der über das Wochenende nicht öffentlich die Freitag getroffene Regierungsvereinbarung zum Brexit verteidigt hatte.
Vom Wohnbau zum Abrissministerium
Dass Johnson die von ihm zunächst mitgetragene Vereinbarung dann doch zum Absprung aus der Regierung nutzte, dürfte freilich doch mit dem Abgang Davis zu tun haben. Dieser hatte mit seinem hart formulierten Rücktrittsschreiben und der Kritik an Premierministerin Theresa May andere EU-Feinde im Kabinett in Zugzwang gebracht. Er könne den am Freitag beschlossenen Kurswechsel zu einem weicheren Brexit nicht mittragen, hatte er mitgeteilt, die Regierungschefin brauche „einen enthusiastischen Gläubigen, keinen widerwilligen Rekruten“. Der bisherige Wohnbau-Staatssekretär Dominic Raab soll Davis nachfolgen.
Grund für Davis’ und Johnsons Ärger: Bei einer Klausurtagung auf ihrem Landsitz in Chequers hatte die Premierministerin am Freitag ihrem Kabinett den Abschied vom zwei Jahre lang propagierten harten Brexit samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion aufgezwungen. Angestrebt wird nun ein Hybrid aus politischer Alleinstellung und wirtschaftlich enger Verflechtung mit dem Kontinent. Eine Freihandelszone soll den reibungslosen Handel mit Gütern gewährleisten; dafür müssten die „gemeinsamen Regeln“befolgt werden, hieß es in einem dreiseitigen Papier zu den Ergebnissen.
Davis, Johnson sowie andere EU-Feinde in- nerhalb der konservativen Regierungspartei – etwa der Leiter einer Gruppe von Brexit-Ultras, Jacob Rees-Mogg – misstrauen diesen Vorstellungen. „Gemeinsame Regeln“bedeute in Wirklichkeit „EU-Regeln“, so Davis – eine Einschätzung, die in Brüssel geteilt wird. Dort besteht zudem der Verdacht, die Briten wollten die vier Säulen des EU-Binnenmarkts (Güter, Dienstleistungen, Geld, Personen) auseinanderbrechen. Das sei gerade mit kleineren Mitgliedstaaten wie den skandinavischen oder den Benelux-Ländern nicht zu machen.
„Nicht perfekt, aber gut“
Davis’ Nachfolger Raab gehört wie sein 69jähriger Vorgänger den Brexit-Anhängern in der konservativen Fraktion und im Kabinett an. Deren prominente Vertreter wie Andrea Leadsom (Führerin des Unterhauses) oder Michael Gove (Umwelt) haben sich in Medieninterviews am Wochenende demonstrativ an Mays Seite gestellt. Davis habe Unrecht, teilte Leadsom Montagmittag mit. Der neue Brexit-Plan setze das Austrittsvotum von 2016 um: „Wir gewinnen die Kontrolle über unsere Grenzen, unsere Gesetze und unser Geld zurück.“Gove nannte das Papier „nicht perfekt, aber gut“.
Schon vor dem Rücktritt hatten zahlreiche Beobachter aber zu unken begonnen, weil von Johnson derartige Sätze nicht zu hören waren – was umso mehr erstaunt, weil der bisherige Chefdiplomat sonst nicht gerade dafür bekannt ist, das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen. Vor allem sollte der Außenminister als Gastgeber beim Londoner Westbalkan-Gipfel dienen, zu dem auch Regierungschefs wie Kanzler Sebastian Kurz und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel erwartet wurden.
Premierministerin May stellte sich unmittelbar nach Johnsons Rücktritt – den ihr Amt laut Gerüchten schon öffentlich „angenommen“haben soll, bevor der Außenminister sein Schreiben offiziell eingereicht hatte – am Montagnachmittag dem Unterhaus, wo sie von einer „angeregten landesweiten Debatte“über den Brexit sprach und ihren Plan verteidigte. Dieser stehe im Einklang mit dem konservativen Programm. May wurde von ihrer konservativen Fraktion mit Beifall empfangen, wie Beobachter britischer Medien hastig mitteilten. Ob sie sich trotz der Rücktritte ausreichender Rückendeckung in der Partei sicher sein könne, war zu Redaktionsschluss dieser Ausgabe ungewiss.
Das EU-Austrittsvotum der Briten vor zwei Jahren stellte sehr viel mehr dar als eine Absage an die europäische Einigung. Viele Wählerinnen und Wähler, eine knappe Mehrheit, wollten auch der politischen Klasse einen Denkzettel verpassen. Wer damals den Menschen zuhörte, konnte nicht daran zweifeln: Die Wut richtete sich gegen London mindestens so sehr wie gegen Brüssel.
Als Folge der tiefgehenden Umwälzung erhielt Theresa May vor zwei Jahren die Schlüssel zur Downing Street. Seither taumelt ihre Regierung von einer Krise in die nächste. Zu allem Überfluss verlor die konservative Partei letztes Jahr bei der mutwillig vom Zaun gebrochenen Neuwahl auch noch ihre Mehrheit. May kann kaum Erfolge verbuchen, aber eines muss man ihr gutschreiben: Sie hat bisher im Amt überlebt, allen Krisen und Kritikern zum Trotz.
Geschafft hat May das allerdings auf Kosten ihres Landes und seiner Zukunft. Um die Brexit-Hardliner in der eigenen Partei bei Laune zu halten, ließ sich die eigentlich gemäßigte Politikerin zu einem harten Brexit-Kurs überreden, der in keiner Weise durch das 52:48-Ergebnis gerechtfertigt war und zudem der Realität nicht standhielt. Zwei lange Jahre haben sich May und ihre Minister verhalten wie pubertierende Jugendliche: Meine Forderung ist zu erfüllen, und zwar sofort; die Wirklichkeit interessiert mich nicht; Schuld an Missständen sind immer die anderen. m vergangenen Wochenende hat die Premierministerin endlich die Hardliner in der eigenen Partei in die Schranken gewiesen. Erstmals wird dem Land klar gesagt: Die selbstgewählte Isolation hat für die BrexitInsel schwerwiegende, nicht zuletzt finanziell negative Folgen. Um mit der EU weiterhin eng wirtschaftlich und politisch zusammenzuarbeiten, sind schmerzliche Kompromisse nötig. Das am Freitag nach einer langen Klausurtagung zustandegekommene Chequers-Papier kann nicht mehr sein als eine Verhandlungsgrundlage. Aber immerhin weist es in die richtige Richtung eines weichen Brexit.
Daher ist es nur folgerichtig, dass die zwei wichtigsten Brexit-Hardliner, David Davis und Boris Johnson, nun zurückgetreten sind. Beide wurden von May ins Kabinett geholt, um den von ihnen angerichteten Scherbenhaufen zu beseitigen. Beide verweigerten diese Aufgabe, zerschlugen lieber noch weiteres Porzellan. Beide sind talentierte Politiker, rhetorisch brillant, stets zu Spaß aufgelegt. Für das seriöse Regierungshandwerk haben sie sich als ungeeignet erwiesen. Mit immer neuen Eskapaden hat vor allem der einstige Londoner Bürgermeister Johnson unter Beweis gestellt, dass er für wirklich wichtige Jobs nicht taugt.
Außer leeren Drohungen an die Adresse Brüssels und Anbiederung an nationalistische Populisten wie US-Präsident Donald Trump hatten Johnson und seine Anhänger nichts zu bieten. Der Tory-Fraktion, dem Parlament und dem Land müssen die Rebellen nun erklären, wie sie sich einen Brexit nach ihrer Fasson vorstellen, der nicht zur wirtschaftlichen und politischen Katastrophe wird.
May zeigte sich in ihren ersten Reaktionen bereit, um ihr Amt zu kämpfen. Die Tories sollten bedenken, dass ihnen leicht nicht nur eine Premierministerin abhandenkommen kann, sondern gleich die ganze Macht. Zwar hat auch die Labour-Fraktion unter Jeremy Corbyn bisher keinen kohärenten Brexit-Plan vorgelegt, aber die Briten könnten schnell zum Schluss kommen: Schlimmer als mit den Konservativen sind wir mit der Opposition auch nicht bedient.
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