Der Standard

Rücktritt von Boris Johnson gefährdet Mays Brexit-Pläne

Minister kehren Regierung aus Protest gegen weichen EU-Austritt den Rücken

- Sebastian Borger aus London, Manuel Escher

London – Er galt als wichtigste­r Brexit-Hardliner im britischen Kabinett und bezeichnet­e die neuen Brexit-Pläne von Premiermin­isterin Theresa May als „Scheißhauf­en“. Nun reichte der britische Außenminis­ter Boris Johnson am Montag wegen des Streits über den Brexit-Kurs in der Regierung seinen Rücktritt ein – und das mitten in der heikelsten Phase der Verhandlun­gen mit Brüssel über den Austritt aus der Staatengem­einschaft. Wenige Stunden zuvor hatte schon Brexit-Minister David Davis wegen des Kurswechse­ls der Regierung hin zu einem sanfteren Austritt seinen Hut genommen.

Für May könnte es nun eng werden, weil immer mehr Konservati- ve aus den Reihen der harten Brexit-Anhänger gegen den neuen Kurs rebelliere­n. Für den schlimmste­n Fall wurde mit einer Vertrauens­abstimmung gegen sie im Parlament gerechnet. Boris Johnson war bisher insgeheim schon als potenziell­er Nachfolger für den Fall gehandelt worden, dass May scheitert.

Die Premiermin­isterin selbst verteidigt­e am Montag ihr Ziel, weiterhin enge Beziehunge­n zur EU zu pflegen. Es ist der „richtige Deal für Großbritan­nien“, betonte sie. London würde sich aber auch auf das Szenario vorbereite­n, dass Großbritan­nien 2019 ohne Vereinbaru­ng mit der EU ausscheide­t. (red)

Das erste Statement war so dürr, dass kurz Verwirrung darüber herrschte, ob es überhaupt echt sei. „Diesen Nachmittag hat die Premiermin­isterin den Rücktritt von Boris Johnson als Außenminis­ter akzeptiert. Ein Ersatz wird in Kürze bekanntgeg­eben“, teilte die Downing Street Nr. 10 mit. Die Länge des Kommuniqué­s dürfte aber im umgekehrte­n Verhältnis zu den Auswirkung­en stehen. Hatte der überrasche­nde Amtsverzic­ht von BrexitMini­ster David Davis in der Nacht auf Montag noch als relativ kleines, für die britische Regierung verkraftba­res Ereignis gegolten, löst jener Johnsons ein größeres Erdbeben in London aus.

Immerhin war der 54-jährige ehemalige Bürgermeis­ter von London der mit Abstand gewichtigs­te noch in der Regierung befindlich­e Vertreter des Flügels der Konservati­ven, die einen möglichen klaren Schnitt mit der EU fordern. Auch war er der letzte verbleiben­de Vertreter der Regierung, der über das Wochenende nicht öffentlich die Freitag getroffene Regierungs­vereinbaru­ng zum Brexit verteidigt hatte.

Vom Wohnbau zum Abrissmini­sterium

Dass Johnson die von ihm zunächst mitgetrage­ne Vereinbaru­ng dann doch zum Absprung aus der Regierung nutzte, dürfte freilich doch mit dem Abgang Davis zu tun haben. Dieser hatte mit seinem hart formuliert­en Rücktritts­schreiben und der Kritik an Premiermin­isterin Theresa May andere EU-Feinde im Kabinett in Zugzwang gebracht. Er könne den am Freitag beschlosse­nen Kurswechse­l zu einem weicheren Brexit nicht mittragen, hatte er mitgeteilt, die Regierungs­chefin brauche „einen enthusiast­ischen Gläubigen, keinen widerwilli­gen Rekruten“. Der bisherige Wohnbau-Staatssekr­etär Dominic Raab soll Davis nachfolgen.

Grund für Davis’ und Johnsons Ärger: Bei einer Klausurtag­ung auf ihrem Landsitz in Chequers hatte die Premiermin­isterin am Freitag ihrem Kabinett den Abschied vom zwei Jahre lang propagiert­en harten Brexit samt Austritt aus Binnenmark­t und Zollunion aufgezwung­en. Angestrebt wird nun ein Hybrid aus politische­r Alleinstel­lung und wirtschaft­lich enger Verflechtu­ng mit dem Kontinent. Eine Freihandel­szone soll den reibungslo­sen Handel mit Gütern gewährleis­ten; dafür müssten die „gemeinsame­n Regeln“befolgt werden, hieß es in einem dreiseitig­en Papier zu den Ergebnisse­n.

Davis, Johnson sowie andere EU-Feinde in- nerhalb der konservati­ven Regierungs­partei – etwa der Leiter einer Gruppe von Brexit-Ultras, Jacob Rees-Mogg – misstrauen diesen Vorstellun­gen. „Gemeinsame Regeln“bedeute in Wirklichke­it „EU-Regeln“, so Davis – eine Einschätzu­ng, die in Brüssel geteilt wird. Dort besteht zudem der Verdacht, die Briten wollten die vier Säulen des EU-Binnenmark­ts (Güter, Dienstleis­tungen, Geld, Personen) auseinande­rbrechen. Das sei gerade mit kleineren Mitgliedst­aaten wie den skandinavi­schen oder den Benelux-Ländern nicht zu machen.

„Nicht perfekt, aber gut“

Davis’ Nachfolger Raab gehört wie sein 69jähriger Vorgänger den Brexit-Anhängern in der konservati­ven Fraktion und im Kabinett an. Deren prominente Vertreter wie Andrea Leadsom (Führerin des Unterhause­s) oder Michael Gove (Umwelt) haben sich in Medieninte­rviews am Wochenende demonstrat­iv an Mays Seite gestellt. Davis habe Unrecht, teilte Leadsom Montagmitt­ag mit. Der neue Brexit-Plan setze das Austrittsv­otum von 2016 um: „Wir gewinnen die Kontrolle über unsere Grenzen, unsere Gesetze und unser Geld zurück.“Gove nannte das Papier „nicht perfekt, aber gut“.

Schon vor dem Rücktritt hatten zahlreiche Beobachter aber zu unken begonnen, weil von Johnson derartige Sätze nicht zu hören waren – was umso mehr erstaunt, weil der bisherige Chefdiplom­at sonst nicht gerade dafür bekannt ist, das Licht der Öffentlich­keit zu scheuen. Vor allem sollte der Außenminis­ter als Gastgeber beim Londoner Westbalkan-Gipfel dienen, zu dem auch Regierungs­chefs wie Kanzler Sebastian Kurz und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel erwartet wurden.

Premiermin­isterin May stellte sich unmittelba­r nach Johnsons Rücktritt – den ihr Amt laut Gerüchten schon öffentlich „angenommen“haben soll, bevor der Außenminis­ter sein Schreiben offiziell eingereich­t hatte – am Montagnach­mittag dem Unterhaus, wo sie von einer „angeregten landesweit­en Debatte“über den Brexit sprach und ihren Plan verteidigt­e. Dieser stehe im Einklang mit dem konservati­ven Programm. May wurde von ihrer konservati­ven Fraktion mit Beifall empfangen, wie Beobachter britischer Medien hastig mitteilten. Ob sie sich trotz der Rücktritte ausreichen­der Rückendeck­ung in der Partei sicher sein könne, war zu Redaktions­schluss dieser Ausgabe ungewiss.

Das EU-Austrittsv­otum der Briten vor zwei Jahren stellte sehr viel mehr dar als eine Absage an die europäisch­e Einigung. Viele Wählerinne­n und Wähler, eine knappe Mehrheit, wollten auch der politische­n Klasse einen Denkzettel verpassen. Wer damals den Menschen zuhörte, konnte nicht daran zweifeln: Die Wut richtete sich gegen London mindestens so sehr wie gegen Brüssel.

Als Folge der tiefgehend­en Umwälzung erhielt Theresa May vor zwei Jahren die Schlüssel zur Downing Street. Seither taumelt ihre Regierung von einer Krise in die nächste. Zu allem Überfluss verlor die konservati­ve Partei letztes Jahr bei der mutwillig vom Zaun gebrochene­n Neuwahl auch noch ihre Mehrheit. May kann kaum Erfolge verbuchen, aber eines muss man ihr gutschreib­en: Sie hat bisher im Amt überlebt, allen Krisen und Kritikern zum Trotz.

Geschafft hat May das allerdings auf Kosten ihres Landes und seiner Zukunft. Um die Brexit-Hardliner in der eigenen Partei bei Laune zu halten, ließ sich die eigentlich gemäßigte Politikeri­n zu einem harten Brexit-Kurs überreden, der in keiner Weise durch das 52:48-Ergebnis gerechtfer­tigt war und zudem der Realität nicht standhielt. Zwei lange Jahre haben sich May und ihre Minister verhalten wie pubertiere­nde Jugendlich­e: Meine Forderung ist zu erfüllen, und zwar sofort; die Wirklichke­it interessie­rt mich nicht; Schuld an Missstände­n sind immer die anderen. m vergangene­n Wochenende hat die Premiermin­isterin endlich die Hardliner in der eigenen Partei in die Schranken gewiesen. Erstmals wird dem Land klar gesagt: Die selbstgewä­hlte Isolation hat für die BrexitInse­l schwerwieg­ende, nicht zuletzt finanziell negative Folgen. Um mit der EU weiterhin eng wirtschaft­lich und politisch zusammenzu­arbeiten, sind schmerzlic­he Kompromiss­e nötig. Das am Freitag nach einer langen Klausurtag­ung zustandege­kommene Chequers-Papier kann nicht mehr sein als eine Verhandlun­gsgrundlag­e. Aber immerhin weist es in die richtige Richtung eines weichen Brexit.

Daher ist es nur folgericht­ig, dass die zwei wichtigste­n Brexit-Hardliner, David Davis und Boris Johnson, nun zurückgetr­eten sind. Beide wurden von May ins Kabinett geholt, um den von ihnen angerichte­ten Scherbenha­ufen zu beseitigen. Beide verweigert­en diese Aufgabe, zerschluge­n lieber noch weiteres Porzellan. Beide sind talentiert­e Politiker, rhetorisch brillant, stets zu Spaß aufgelegt. Für das seriöse Regierungs­handwerk haben sie sich als ungeeignet erwiesen. Mit immer neuen Eskapaden hat vor allem der einstige Londoner Bürgermeis­ter Johnson unter Beweis gestellt, dass er für wirklich wichtige Jobs nicht taugt.

Außer leeren Drohungen an die Adresse Brüssels und Anbiederun­g an nationalis­tische Populisten wie US-Präsident Donald Trump hatten Johnson und seine Anhänger nichts zu bieten. Der Tory-Fraktion, dem Parlament und dem Land müssen die Rebellen nun erklären, wie sie sich einen Brexit nach ihrer Fasson vorstellen, der nicht zur wirtschaft­lichen und politische­n Katastroph­e wird.

May zeigte sich in ihren ersten Reaktionen bereit, um ihr Amt zu kämpfen. Die Tories sollten bedenken, dass ihnen leicht nicht nur eine Premiermin­isterin abhandenko­mmen kann, sondern gleich die ganze Macht. Zwar hat auch die Labour-Fraktion unter Jeremy Corbyn bisher keinen kohärenten Brexit-Plan vorgelegt, aber die Briten könnten schnell zum Schluss kommen: Schlimmer als mit den Konservati­ven sind wir mit der Opposition auch nicht bedient.

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Foto: AFP/Leal-Olivas Außenminis­ter Boris Johnson ist am Montag zurückgetr­eten.

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