Der Standard

KOPF DES TAGES

Ein Gespenst geht um im Teilchenzo­o

- David Rennert

Am 30. Dezember 1930 schrieb der österreich­ische Physiker Wolfgang Pauli einen Brief an die „lieben radioaktiv­en Damen und Herren“, die sich bei einer Tagung in Tübingen versammelt hatten. Darin skizzierte er einen „verzweifel­ten Ausweg“aus der Misere, in der sich die Physik gerade befand. Er schlug ein neues Elementart­eilchen vor, das bis dahin mysteriöse Messungen beim radioaktiv­en Betazerfal­l erklären würde: das Neutrino.

Bis der experiment­elle Nachweis dieses Teilchens gelang, sollte es aber noch bis 1956 dauern, denn eines Neutrinos habhaft zu werden ist alles andere als einfach: So häufig diese Teilchen auch sind und so viele davon permanent aus dem All auf uns einprassel­n, sie durchdring­en herkömmlic­he Materie mehr oder weniger unbeeindru­ckt – seien es Planeten, Messgeräte oder menschlich­e Körper. Um sie wenigstens indirekt aufspüren zu können, bedarf es eines enormen Aufwands. Das erste Gelingen wurde 1995 mit dem Nobelpreis gewürdigt.

Selbst hartgesott­ene Forscher lassen sich aber bis heute zur eher unwissensc­haftlichen Bezeichnun­g „Geistertei­lchen“hinreißen, ist das Neutrino doch einer der exotischer­en Bewohner des physikalis­chen Teilchenzo­os. Noch mehr als 60 Jahre nach ihrer Existenzbe­stätigung haben die Neutrinos ihren gespenstis­chen Ruf nicht abgeschütt­elt. Dem Standardmo­dell der Teilchenph­ysik zufolge dürften sie eigentlich keine Masse haben. Allerdings hat sich inzwischen herausgest­ellt, dass das Gegenteil der Fall ist – sie müssen doch eine sehr geringe Masse aufweisen, auch wenn sie das gut verbergen. Das Standardmo­dell musste erweitert werden, 2015 gab es den nächsten NeutrinoNo­belpreis.

Wie schwer sie denn nun aber sind, zählt nach wie vor zu den großen ungelösten Rätseln der Teilchenph­ysik. Die Antwort auf diese Frage würde durchaus einen dritten Nobelpreis verdienen: denn sie verspricht neue Informatio­nen über den Urknall vor rund 13,8 Milliarden Jahren, bei dem „Geistertei­lchen“in großer Zahl entstanden – und bis heute umherschwi­rren.

Inzwischen gelingt es Forschern immer häufiger, kosmische Neutrinos aufzuspüre­n. Nun konnte sogar erstmals der Weg eines dieser Teilchen von einer fast vier Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie bis zum Südpol unseres Planeten nachvollzo­gen werden, Astronomen sprechen von einem neuen Blick ins Universum. Es bleibt geisterhaf­t spannend.

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Illustrati­on: NSF Ein weitgereis­tes kosmisches Neutrino sorgt für Aufsehen.

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