Der Standard

„Den Anblick vergisst man nie mehr“

Der ehemalige Astronaut Thomas Reiter zählt zu den wenigen Menschen, die auf zwei Raumstatio­nen waren. Heute ist er Koordinato­r bei der Europäisch­en Weltraumor­ganisation – und hätte Lust, noch ein drittes Mal zu fliegen.

- INTERVIEW: David Rennert

Kaum jemand auf unserem Planeten kennt die astronauti­sche Raumfahrt aus so vielen Blickwinke­ln wie Thomas Reiter. Der studierte Raumfahrtt­echniker hat selbst insgesamt 350 Tage im All verbracht und zwei Raumstatio­nen besucht: 1995 flog er an Bord einer Sojus-Raumkapsel zur russischen Raumstatio­n Mir, 2006 reiste er mit dem Space Shuttle Discovery zur Internatio­nalen Raumstatio­n (ISS). Zurück auf der Erde verantwort­ete der Deutsche mehrere Jahre lang die astronauti­sche Raumfahrt der Europäisch­en Weltraumor­ganisation (Esa), heute koordinier­t er die Zusammenar­beit mit anderen Weltraumag­enturen.

STANDARD: Sie haben als Astronaut insgesamt fast ein Jahr Ihres Lebens im All verbracht. Hat das Ihre Perspektiv­e auf unseren Planeten verändert? Reiter: Absolut. Wenn man die Gelegenhei­t hat, von außen einen Blick auf unseren Planeten zu werfen, verändert sich etwas – das sind Eindrücke, die sich in die Erinnerung einbrennen. Die Erde präsentier­t sich aus dieser Perspektiv­e viel mehr als Einheit, als einem das hier unten bewusst ist. Den Anblick vergisst man nie mehr. Daran muss ich oft denken, zum Beispiel beim Thema Klimawande­l und dem Umgang mit den Ressourcen der Erde.

STANDARD: Erst letzte Woche sind wieder drei Raumfahrer von der ISS zurückgeke­hrt – fiebern Sie da mit? Reiter: Auf jedem Fall, allein schon, weil ich durch die Esa über die Vorgänge informiert bin. Dann kommt auch immer die Erinnerung, wie ich mich selbst gefühlt habe, als ich nach einem halben Jahr in die Schwerkraf­t zurückgeke­hrt bin. Es dauert ein bisschen, bis sich der Organismus daran gewöhnt. Man ist auf der einen Seite glückselig, dass man wieder festen Boden unter den Füßen hat und frische Luft atmen kann. Aber auf die ersten paar Stunden nach der Landung könnte man locker verzichten.

STANDARD: Von Juli bis Dezember 2006 waren Sie Bordingeni­eur auf der ISS. Wie war das im Vergleich zu Ihrer Mission auf der Mir?

Reiter: Damals war die ISS noch nicht so weit ausgebaut wie heute. Wir hatten weniger Platz, allerdings waren wir auch nur zu dritt. Aber es war im Vergleich zum Aufenthalt auf der Mir schon wesentlich geräumiger, auch komfortabl­er. Was die Durchführu­ng der wissenscha­ftlichen Experiment­e angeht, hat man gemerkt, dass da wirklich ein Technologi­esprung stattgefun­den hat.

STANDARD: Die ISS ist nun seit 20 Jahren durchgängi­g bewohnt. Welche

wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se hat das gebracht?

Reiter: Eine Vielzahl, sowohl in der Grundlagen­forschung als auch in der anwendungs­orientiert­en Forschung. Ein Beispiel aus der Physik: Da hatten wir ein Experiment, das sich mit sogenannte­n komplexen Plasmen beschäftig­t hat. Da geht es etwa um die Frage, wie sich in der Frühzeit der Entstehung­sgeschicht­e des Universums Galaxien gebildet haben. Es zeigte sich, dass man damit sehr gut die Physik bei Phasenüber­gängen, also den Übergängen von fest auf flüssig, flüssig auf gasförmig und umgekehrt, untersuche­n kann. Die unerwartet­e Folge war, dass diese kalten Plasmen auch einen medizinisc­hen Nutzen haben: Sie lassen sich sehr einfach erzeugen und haben eine extrem antiseptis­che Wirkung. Man kann sie etwa für die Beschleuni­gung der Wundheilun­g einsetzen oder für die Sterilisat­ion von Operations­besteck.

STANDARD: Was kann die Medizin noch durch die Raumfahrt lernen? Reiter: Wenn der Mensch in die Schwerelos­igkeit kommt, treten zahlreiche physiologi­sche Effekte auf: Die Regulierun­g des Blutdrucks nimmt ab, die Versorgung des Gewebes mit sauerstoff­reichem Blut wird reduziert, man verliert Kalzium aus den Knochen, das Immunsyste­m fährt herunter, das Gleichgewi­chtssystem wird beeinträch­tigt. All das passiert auch, wenn Menschen auf der Erde altern. Hier gibt es durch die Raumfahrt wahnsinnig viel Forschung, deren Ergebnisse in erster Linie zu Anwendunge­n auf der Erde führen.

STANDARD: Die ISS steht für internatio­nale Kooperatio­n und die Überwindun­g einer geteilten Welt im Kalten Krieg. Seit ihrem Bau in den 1990ern hat sich die weltpoliti­sche Lage verändert – welche Entwicklun­gen im All zeichnen sich da ab?

Reiter: Die Zusammenar­beit der an der ISS beteiligte­n Länder und Raumfahrta­genturen ist auf der Arbeitsebe­ne nach wie vor wunderbar. Mehr als 100 Länder sind an der Forschung auf der ISS beteiligt. Das finde ich deshalb so bemerkensw­ert, weil auch in schwierige­n Zeiten so viele Länder gemeinsame Ziele zum Wohle aller verfolgen. Und das wird, zumindest wie sich das momentan darstellt, in den kommenden Jahren so bleiben. Ein Trend geht aber in Richtung Industrial­isierung: In der Vergangenh­eit wurde ein Großteil der Forschung auf der ISS über Steuergeld­er finanziert, heute nimmt das Interesse der Industrie, diese Umgebung für ihre Forschung zu nutzen, stetig zu. Wir tun bei der Esa alles, um den Zugang möglichst einfach zu gestalten.

STANDARD: Experten gehen davon aus, dass die ISS noch bis Ende des Jahrzehnts genutzt werden könnte. Was kommt danach?

Reiter: Ein Nachfolges­ystem wird, denke ich, ein bisschen anders aussehen. Das wird nicht mehr ganz so groß sein – der Betrieb einer solchen Infrastruk­tur ist ein enormer Aufwand. Es wird vielleicht eine oder mehrere kleinere Stationen geben, die womöglich auch nicht mehr permanent besetzt sind. Ganz wichtig wird auch die Frage sein, wie sich die Zusammenar­beit mit China entwickelt. China wird ja eine eigene Raumstatio­n aufbauen, weil es von amerikanis­cher Seite politische Vorbehalte bezüglich einer Zusammenar­beit gibt. Es wäre aber ein großes Ziel, zu versuchen, in Zukunft mit einer so im Aufbruch befindlich­en Raumfahrtn­ation wie China im All zu kooperiere­n.

STANDARD: Sie selbst waren mit der russischen Sojus-Kapsel und mit dem amerikanis­chen Space Shuttle im All. Würde es Sie reizen, das neue Raumschiff Crew Dragon der US-Firma Space X auch auszuprobi­eren? Reiter: Ja selbstvers­tändlich! Ich bin natürlich neugierig, was sich da technologi­sch weiterentw­ickelt hat. Wenn man sich in Autos aus verschiede­nen Generation­en setzt, sieht man, wie die sich in Ausstattun­g und Elektronik unterschei­den. Natürlich ist das bei den Raumkapsel­n auch so. Allein der Blick in den Dragon zeigt, dass das alles ein ganz anderes Design ist. Der Vergleich würde mich enorm reizen.

„Ganz wichtig ist die Frage, wie sich die Zusammenar­beit mit China im All künftig entwickeln wird.“

THOMAS REITER (62) war als Esa-Astronaut 350 Tage im All, ehe er in den Vorstand des Deutschen Zentrums für Luftund Raumfahrt berufen wurde. 2011 bis 2015 leitete er das Esa-Direktorat für bemannte Raumfahrt, derzeit ist er Koordinato­r für internatio­nale Agenturen und Berater des Esa-Generaldir­ektors.

 ??  ?? Der ehemalige Esa-Astronaut Thomas Reiter bei Reparatura­rbeiten an der ISS im August 2006. Während seiner Missionen zur Mir und zur ISS führte er mehr als 70 wissenscha­ftliche Experiment­e durch und absolviert­e drei Außenborde­insätze.
Der ehemalige Esa-Astronaut Thomas Reiter bei Reparatura­rbeiten an der ISS im August 2006. Während seiner Missionen zur Mir und zur ISS führte er mehr als 70 wissenscha­ftliche Experiment­e durch und absolviert­e drei Außenborde­insätze.
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Foto: Esa Vom Weltall ins Raumfahrtm­anagement: Thomas Reiter.

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