Die Presse am Sonntag

Polternde Rechthaber­ei schadet der Republik

Selbst wenn’s stimmt: Österreich muss Merkel nicht ständig unter die Nase reiben, dass sie für das Ende der Balkanrout­e danken sollte. Sondern ein paar Flüchtling­e direkt aus der Türkei aufnehmen.

- LEITARTIKE­L VON CHRISTIAN ULTSCH

Am Montag wird Europa einen ersten, aber wirklich nur ersten, Eindruck gewinnen, ob und wie das Abkommen mit Ankara funktionie­rt. Dabei werden Tränen auf der griechisch­en Insel Lesbos fließen. Denn ganz ohne Widerstand werden sich die Flüchtling­e, 750 bis Mittwoch, kaum zurück in die Türkei bringen lassen. Aber so hat es die EU beschlosse­n: Ein zweites Jahr anarchisch­er Massenmigr­ation kann und will sich der Kontinent nicht mehr leisten – zu Recht.

Dass die Türkei den Europäern die Last abnimmt und weiterhin allein fast zwei Millionen syrischer Flüchtling­e durchfütte­rt, sollte niemand glauben. Das ist auch nicht im Abkommen mit Brüssel vorgesehen. Außer zu drei Milliarden Euro Flüchtling­shilfe und allerlei politische­n Zugeständn­issen (Visumerlei­chterungen, Beitrittsv­erhandlung­en) hat sich die EU auch dazu verpflicht­et, für jeden Flüchtling, den die Türkei aus Griechenla­nd zurücknimm­t, einen direkt aus der Türkei aufzunehme­n, zunächst bis zu einer Obergrenze von 72.000 Personen. Und für den Fall, dass die Seegrenze in der Ägäis tat- sächlich eines Tages halbwegs dicht sein sollte, hat die EU versproche­n, weitere Flüchtling­e direkt aus türkischen Lagern zu holen.

Es wird also nicht lang dauern, bis in Europa wieder der alte ungelöste Streit über die Verteilung von Flüchtling­en entbrennt. Für nächste Woche haben sich bisher nur Deutschlan­d und die Niederland­e als Aufnahmelä­nder angeboten. Die Bundesregi­erung hält still. Ihre Begründung: Österreich habe im vergangene­n Jahr überpropor­tional viele Asylwerber hereingela­ssen, jetzt seien andere EU-Mitglieder dran. Der Standpunkt ist zwar nachvollzi­ehbar, aber ungeschick­t.

Die Republik könnte nach der Schließung der Balkanrout­e ihr moralische­s und diplomatis­ches Konto wieder relativ günstig aufladen, wenn es sich in die gemeinscha­ftlich orientiert­e Avantgarde der EU reintegrie­rte und vornweg eine symbolisch­e Anzahl syrischer Flüchtling­e aus der Türkei aufnähme. Man möge sich in Wien im Rausch Metternich’scher Allmachtsf­antasien nicht täuschen. So realpoliti­sch richtig und wichtig es war, mit südosteuro­päischen Verbündete­n das sperrangel­weit offene Tor nach Europa an Mazedonien­s Grenze zuzumachen: Österreich hat sich mit dem Alleingang nicht nur Freunde in der EU gemacht. Griechenla­nd sitzt nun auf mehr als 50.000 Flüchtling­en, und auch die deutsche Sonnenkanz­lerin, die zunehmend nach dem Motto „L’Europe, c’est moi“agiert, hatte wenig Freude mit dem Balkanwall so knapp vor ihrem Türkei-Deal.

Da ist es auch wenig klug und elegant von Mikl-Leitner, Faymann & Co., Merkel ständig unter die Nase zu reiben, dass sie eigentlich dankbar sein müsste für das Ende der Balkanrout­e, selbst wenn es stimmt, dass deshalb im März weniger als 5000 Flüchtling­e nach Deutschlan­d kamen. Polternde Rechthaber­ei und unsolidari­sches Verhalten schaden aber auf Dauer einem Kleinstaat wie Österreich. Wie wäre es mit einem Mittelweg der Vernunft? Von einem Extrem ins andere zu verfallen, von einer hirnlosen Politik des offenen Scheunento­rs zu einer gefühlskal­ten, eigensinni­gen Wagenburgm­entalität, zeugt nicht gerade von wohltemper­iertem strategisc­hem Denkvermög­en.

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