Polternde Rechthaberei schadet der Republik
Selbst wenn’s stimmt: Österreich muss Merkel nicht ständig unter die Nase reiben, dass sie für das Ende der Balkanroute danken sollte. Sondern ein paar Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufnehmen.
Am Montag wird Europa einen ersten, aber wirklich nur ersten, Eindruck gewinnen, ob und wie das Abkommen mit Ankara funktioniert. Dabei werden Tränen auf der griechischen Insel Lesbos fließen. Denn ganz ohne Widerstand werden sich die Flüchtlinge, 750 bis Mittwoch, kaum zurück in die Türkei bringen lassen. Aber so hat es die EU beschlossen: Ein zweites Jahr anarchischer Massenmigration kann und will sich der Kontinent nicht mehr leisten – zu Recht.
Dass die Türkei den Europäern die Last abnimmt und weiterhin allein fast zwei Millionen syrischer Flüchtlinge durchfüttert, sollte niemand glauben. Das ist auch nicht im Abkommen mit Brüssel vorgesehen. Außer zu drei Milliarden Euro Flüchtlingshilfe und allerlei politischen Zugeständnissen (Visumerleichterungen, Beitrittsverhandlungen) hat sich die EU auch dazu verpflichtet, für jeden Flüchtling, den die Türkei aus Griechenland zurücknimmt, einen direkt aus der Türkei aufzunehmen, zunächst bis zu einer Obergrenze von 72.000 Personen. Und für den Fall, dass die Seegrenze in der Ägäis tat- sächlich eines Tages halbwegs dicht sein sollte, hat die EU versprochen, weitere Flüchtlinge direkt aus türkischen Lagern zu holen.
Es wird also nicht lang dauern, bis in Europa wieder der alte ungelöste Streit über die Verteilung von Flüchtlingen entbrennt. Für nächste Woche haben sich bisher nur Deutschland und die Niederlande als Aufnahmeländer angeboten. Die Bundesregierung hält still. Ihre Begründung: Österreich habe im vergangenen Jahr überproportional viele Asylwerber hereingelassen, jetzt seien andere EU-Mitglieder dran. Der Standpunkt ist zwar nachvollziehbar, aber ungeschickt.
Die Republik könnte nach der Schließung der Balkanroute ihr moralisches und diplomatisches Konto wieder relativ günstig aufladen, wenn es sich in die gemeinschaftlich orientierte Avantgarde der EU reintegrierte und vornweg eine symbolische Anzahl syrischer Flüchtlinge aus der Türkei aufnähme. Man möge sich in Wien im Rausch Metternich’scher Allmachtsfantasien nicht täuschen. So realpolitisch richtig und wichtig es war, mit südosteuropäischen Verbündeten das sperrangelweit offene Tor nach Europa an Mazedoniens Grenze zuzumachen: Österreich hat sich mit dem Alleingang nicht nur Freunde in der EU gemacht. Griechenland sitzt nun auf mehr als 50.000 Flüchtlingen, und auch die deutsche Sonnenkanzlerin, die zunehmend nach dem Motto „L’Europe, c’est moi“agiert, hatte wenig Freude mit dem Balkanwall so knapp vor ihrem Türkei-Deal.
Da ist es auch wenig klug und elegant von Mikl-Leitner, Faymann & Co., Merkel ständig unter die Nase zu reiben, dass sie eigentlich dankbar sein müsste für das Ende der Balkanroute, selbst wenn es stimmt, dass deshalb im März weniger als 5000 Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Polternde Rechthaberei und unsolidarisches Verhalten schaden aber auf Dauer einem Kleinstaat wie Österreich. Wie wäre es mit einem Mittelweg der Vernunft? Von einem Extrem ins andere zu verfallen, von einer hirnlosen Politik des offenen Scheunentors zu einer gefühlskalten, eigensinnigen Wagenburgmentalität, zeugt nicht gerade von wohltemperiertem strategischem Denkvermögen.