Ein sanfter Chef ist Goldes wert
Google setzt voll auf Sundar Pichai und schenkt ihm 300 Mio. Dollar. Der arm aufgewachsene Inder ist nun der bestbezahlte Manager, bestimmt unser aller Zukunft mit – und ist so unscheinbar, dass ihn niemand erkennt.
Eine kleine Handbewegung genügt, damit Sundar Pichai seine Ruhe hat. Im Jänner in Las Vegas, auf der weltgrößten Messe für Unterhaltungselektronik, drehte er einfach sein Namensschild am Pullover um. Das erlaubte ihm, einen halben Tag lang ungestört über die Stände zu schlendern, Vertretern Löcher in den Bauch zu fragen und sich inspirieren zu lassen. Niemand erkannte den schlaksigen, stets leicht gebeugt gehenden Mann. Dabei ist der jungenhaft wirkende 43-Jährige seit vorigem August der Herr über die Suchmaschine Google – und damit einer der mächtigsten Manager der Welt, der unser aller Zukunft mitbestimmt.
Schon die Inthronisation des Ingenieurs ging im medialen Getöse über den Konzernumbau fast unter. Denn formal ist das Ding, das immer noch Google heißt, nur mehr eine Sparte – unterm Dach eines neuen Konzerns namens Alphabet, in dem die Gründer Larry Page und Sergey Brin das Sagen haben. Doch diese Holding ist nur eine Hülle, alle anderen Sparten teure Spielereien. Tatsächlich zog sich Page aus der operativen Führung zurück und übergab das Szepter dezent seinem Kronprinzen. Der verantwortet nun alles, womit Google Geld verdient und der Datenkrake Macht verleiht: die Suchmaschine, das mobile Betriebssystem Android, den Internetbrowser Google Chrome, die Videoplattform YouTube – mitsamt allen Anzeigen, der hauseigenen Dollardruckmaschine. Zu viert auf dem Moped. Wie stark die beiden Gründer auf ihre frühere „Geheimwaffe“setzen, lässt sich in Zahlen fassen. Zum Start an der Spitze bekam Pichai Aktien im Wert von rund 200 Mio. Dollar geschenkt. Schon damit verdiente er mehr als jeder andere US-Manager im Vorjahr. Das war aber nicht alles. Diese Woche meldete der kalifornische Konzern der Börsenaufsicht, dass der neue Boss schon vor seiner Kür Anteile im Wert von 100 Mio. erhalten hat. Alles in Form von Restricted Shares: Aktien, über die der Begünstigte erst dann verfügt, wenn er für eine bestimmte Zeit in der Firma geblieben ist. 300 Mio.: So viel ist es Google wert, den Wunderknaben zumindest bis 2017 zu halten.
Schon zweimal drohte sein Absprung, zu Microsoft und Twitter. Dass er blieb, wurde ihm finanziell gedankt. In Summe hat Pichai versprochene Anteile und Optionen im Wert von 750 Mio. Dollar angesammelt. Das verblasst zwar noch im Vergleich zu Eric Smith, dem Google-Chef der frühen Jahre, der Aktien im Wert von 3,2 Mrd. Dollar hält. Aber der bekam seine Ge- schenke zu einem Zeitpunkt, als sie noch wenig wert waren.
Große Zahlen also, die vielen imponieren. Andere machen sie wütend. Letztere mag es versöhnen, wenn sie von der Jugend des märchenhaften Aufsteigers hören. Pichai wuchs an der Südspitze Indiens auf, in Chennai, dem früheren Madras. Sein Vater war Elektroingenieur, die Mutter Stenotypistin. Indischer Mittelstand der Siebzigerjahre, das hieß für den Buben: leben in einer Zweizimmerwohnung, schlafen am Boden des Wohnzimmers. Mit dem Moped fuhren zuweilen alle zugleich: Hinten saßen Mutter und Schwester, der Vater lenkte, und der Sohn stand vorn wie eine Galionsfigur. Häufig hing Sundar auch an der Seite eines Busses, weil es drinnen unerträglich heiß war. Abends, wenn er von der Schule heimkam, versperrten ihm oft böse Hunde den Weg. Dann kletterte er über die Dächer der chaotisch verbauten Vorstadt.
Sundar Pichai
(43) ist seit August 2015 Chef von Google, unter dem Dach der neuen Holding Alphabet. Der gebürtige Inder legte eine Blitzkarriere hin. Er baute den Browser Google Chrome auf. Zuletzt war er für das mobile Betriebssystem Android verantwortlich.
erzielte 2015 einen Umsatz von 75 Mrd. Dollar, den größten Teil davon durch Werbeeinnahmen. Der kalifornische IT-Riese matcht sich mit Apple um den Titel des wertvollsten Unternehmens der Welt, gemessen an der Kapitalisierung an der Börse.
Als er zwölf war und sein Vater sich ein Telefon leisten konnte, verblüffte er seine Familie damit, dass er sich jede Nummer merkte. Damals wollte er Kricket-Spieler werden. Als Kapitän brachte er die Schulmannschaft bis zum Meistertitel in seinem Bundesland Tamil Nadu (das so viele Einwohner hat wie Deutschland). Doch Studienplätze und Stipendien für Hochbegabte zeichneten ihm andere Wege vor: Erst studierte er Maschinenbau in Indien, dann Halbleiterphysik in Stanford. Flug und Umzug nach Kalifornien kosteten 1000 Dollar, mehr als das Jahresgehalt seines Vaters, der dafür alle Ersparnisse zusammenkratzen musste. Empathie statt Charisma. Noch heute hat der Wahlamerikaner mit der Muttersprache Tamil einen starken Akzent. Besucher von Google-Konferenzen spotten über seine langweiligen Reden und fehlendes Charisma. In seiner indischen Heimat aber ist der Senkrechtstarter ein Held, dem alle Herzen zufliegen. Mit weit mehr Einfühlungsvermögen als Mark Zuckerberg umwirbt er die Kunden der Zukunft. Facebook will die Armen dieser Welt mit Free Basics beglücken, einem kostenlosen, aber stark eingeschränkten Zugang zum Internet, der dem sozialen Netzwerk eine dominierende Stellung verleiht – weshalb indische Richter den Dienst verboten haben. Pichai geht behutsamer vor, er kennt den Stolz und die Bedürfnisse seiner armen Landsleute: Er finanziert Bandbreite, um die Verbindungen zu beschleunigen, lässt WLAN auf Bahnhöfen installieren und sorgt in der nächsten Version von Android dafür, dass dieselben Funktionen mit weniger Daten auskommen.
Auch das macht ihn für Google so wertvoll: Die nächste Milliarde an Internet-Nutzern kommt vor allem aus Indien und Afrika. Nur hier wächst die Zahl der Smartphones noch stark. Ein iPhone ist den Bewohnern der „sich entwickelnden Welt“meist viel zu teuer. Sie greifen zum Billig-Smartphone, das in aller Regel mit Android läuft. Das verschafft einen strategischen Vorsprung vor Apple: Wo Google sein eigenes Betriebssystem verbreitet, treibt es die Leute viel leichter (und ohne Gebühren an Konkurrenten) zu seinen hoch profitablen, mit Werbung gespickten Anwendungen – der Suchmaschine und dem Kartendienst Maps. So funktioniert es auch bei den Browsern, die durchs Internet geleiten. Dass Pichai dies früh und hellsichtig erkannte, verschaffte ihm sein Ticket nach oben.
Vor zwölf Jahren heuerte der Dreifachabsolvent (in Wirtschaft ließ er sich auch noch schulen) bei Google an. Sein erstes Projekt: auf Firefox und Internet Explorer für einen raschen Zugang zur Suchmaschine zu sorgen. Das brachte ihn auf die Idee: Warum nicht gleich einen eigenen Browser? Google Chrome war geboren. Was Eric Schmidt für eine „sinnlose Ablenkung“von wichtigen Dingen hielt, erwies sich als genialer Schachzug. Heute ist Chrome Marktführer unter den Browsern. Mit seiner Hilfe hielt man sich Bing, die Suchmaschinenkonkurrenz von Microsoft, erfolgreich vom Leib.
Die Feuerprobe als Manager aber stand Pichai noch bevor – mit Android. Das zugekaufte Betriebssystem blieb lang ein Fremdkörper am Firmensitz in Mountain View. Dafür sorgte sein eigensinniger und streitbarer Erfinder, Andy Rubin. Er hatte dafür auch einen eigenen Browser programmiert. Aber die Führung wollte Chrome integrieren. Mit viel Geduld überwand Pichai Rubins Misstrauen. Schließlich aber drängte Übervater Page den Störenfried aus der Firma und machte Pichai 2014 zum Herrscher über Android.
Wieder war dessen diplomatisches Geschick gefragt – im Umgang mit den Handyherstellern als Kunden. Android ist eine offene Plattform, die jeder Smartphoneanbieter für sich adaptie- ren kann. Samsung verfiel der Versuchung, sich mit einer eigenen Oberfläche zu profilieren und die Google-Produkte dahinter zu verstecken. Monate brauchte es, bis Pichai die Koreaner wieder auf Linie brachte. Am Ende hatte er die Bande zwischen beiden Firmen fester denn je geknüpft. Damit stand für Insider fest: Dieser Mann wird der nächste Google-Chef. Operation Vertrauen. Pichai bringt einen neuen Führungsstil mit: freundlich, bedächtig, einfühlsam, reflektiert – ein Kontrapunkt zu den großspurigen Alphatieren und launenhaften Diven, die sonst über das Silicon Valley herrschen. Mit seiner Jugendliebe, die ihm nach Amerika nachzog, wohnt er in einer Villa in den Hügeln, die sich neben den Protzbauten der Nachbarn bescheiden ausnimmt. Bei Google flüstert man sich staunend zu, dass er seinen zwei Kindern versprochen hat, sie jeden Abend selbst ins Bett zu bringen.
Ein solcher Typ scheint wie geschaffen für die größte Aufgabe, die Google zu bewältigen hat: unser Vertrauen zurückzugewinnen. Seit dem NSA-Skandal und dem Wissen über die Mechanismen von Big Data steht die Firma, die einst mit dem Grundsatz „Don’t be evil“angetreten ist, als ge-
Damit der Senkrechtstarter bei Google bleibt, greifen die Gründer tief in die Tasche. Die Armen der Welt sind die Kunden der Zukunft. Pichai weiß, was sie brauchen. Der Typ flößt Vertrauen ein. Aber kann er es für die Datenkrake zurückgewinnen?
fährliches Monster da, das alles in Erfahrung bringt und mit privaten Daten Schindluder treibt. Eric Schmidt hatte solche Sorgen noch zynisch abgetan: „Wer etwas getan hat, das niemand wissen soll, hätte es besser gar nicht erst tun sollen.“Pichai schlägt zumindest andere Töne an: „Wir müssen Systeme schaffen, die es den Menschen leicht machen zu sagen: Ich muss mich abkoppeln, das muss privat bleiben.“Vorerst ist es aber nur die Stimmung, die wieder stimmt. Den sanften Worten müssen die harten Fakten erst folgen.