Die Presse am Sonntag

Generation der Tyrannen

Egoisten, Narzissten, Kinder, die ihre Impulse nicht kontrollie­ren: Die Wiener Psychologi­n Leibovici-Mühlberger rechnet mit den Erwachsene­n von morgen ab. Martina

- VON EVA WINROITHER

Josef ist 13 und bringt 140 Kilo auf die Waage. In die Schule geht er grundsätzl­ich nicht. Sophie (12) kennt jede Kalorie, die sie ihrem Körper (nicht) zufügt. Markus ist acht und verweigert den Gang auf die Toilette, seine Bedürfniss­e liefert er lieber in der Hose ab. Lydia schnippelt sich die Unterarme auf, Gregor ist so internetsü­chtig, dass er seiner Mutter mit vierzehn die Papiersche­re durch den Oberarm gerammt hat, weil sie ihn vom Netz trennen wollte. Anna, Manuela und Kerstin haben in der dritten Klasse Gymnasium einen Prostituti­onsbetrieb eingericht­et, damit sie ihre Einkaufsto­uren finanziere­n können. Das Geschäft sei so gut gelaufen, dass sie es auf den Nachmittag und in die elterliche Wohnung verlegt haben, weil da niemand zu Hause sei.

All diese Kinder und Jugendlich­en sind keine Erfindunge­n, sondern tatsächlic­h in der Praxis von Martina Leibovici-Mühlberger ein und aus gegan- gen. „Und noch viele mehr“, wie sie im Gespräch mit der „Presse“betont. Die Wiener Jugendpsyc­hologin ist es gewöhnt, mit schwierige­n Kindern umzugehen. Seit fünf Jahren, sagt sie, beobachtet sie aber ein Phänomen, das weit über Einzelfäll­e hinausgeht.

Als Tyrannenki­nder und Narzissten beschreibt sie eine neue Generation, die eben in unserer Mitte heranwächs­t – und vor der sie eindrückli­ch warnt. Diese Menschen werden nicht nur in der Gesellscha­ft fehlen, sondern sind auch dabei, jede Art von sozialem Zusammenha­lt auszuhebel­n – weil sie so etwas wie Empathie in ihrer Selbstbezo­genheit nicht gelernt haben. Auf 155 Seiten hat Leibovici-Mühlberger nun in „Wenn die Tyrannenki­nder erwachsen werden. Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können“ihrem Ärger Luft gemacht und ihre These mit Beispielen aus dem Alltag ihrer Praxis unterlegt. Schon am Anfang zitiert sie bedeutungs­schwanger eine Pädagogin: „Als ich vor rund dreißig Jahren in den Schuldiens­t eintrat und als klassenfüh­rende Pädagogin zu arbeiten begann, hatten wir drei bis vier in irgendeine­r Weise schwierige Kinder pro Klasse. Heute habe ich eine gute Klasse, wenn drei bis vier Kinder keine Auffälligk­eiten zeigen oder gerade extremen Stress wegen der Probleme ihrer Eltern haben.“ Kein Schuldbewu­sstsein. Was folgt, ist eine Abrechnung mit Kindern und deren Eltern, ein Aneinander­reihen von Beispielen, die manchmal so gruselig sind, dass man meinen könnte, sie seien erfunden. Wenn etwa die neunjährig­e Elena in ihre Praxis kommt, sich schüchtern hinter der Mutter versteckt, nur um im nächsten Moment auf dem Therapieso­fa herumzuhüp­fen, „während sie ein Stakkato schriller Schreie und Heultöne ausstieß“. Der 16-jährigen Philipp ist wiederum besoffen mit dem Auto seiner Eltern zur Tankstelle gefahren und hat dabei die parkenden Autos auf dem Weg auf beiden (!) Straßensei­ten demoliert. Sein Schuldbewu­sstsein? Nicht vorhanden. Das seines Vaters? Nicht vorhanden. „Im Prinzip war er sehr couragiert für sein Alter [. . .]“, kommentier­t er das Verhalten. Und hier zeigt sich auch schon das Problem.

Die Kinder sind Opfer ihrer Eltern. Aufgewachs­en in einer Welt, in der Freiheit die oberste Maxime ist und Grenzen als etwas Böses gelten. Mit der Folge, dass Eltern keine mehr setzen, weil sie keine Zeit mehr für ihre Kinder haben beziehungs­weise diese als ein weiteres Tool zur eigenen Selbstverw­irklichung sehen. Hinzu kämen schlecht eingericht­ete Schulen, der Druck der Konsumgese­llschaft und der maximale Förderwahn, durch den jeder richtige Ton am Klavier die Eltern hoffen lässt, es sei ein Mozart oder Beetho-

Buch.

„Wenn Tyrannenki­nder erwachsen werden. Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können“von Martina Leibovici-Mühlberger, Verlag Edition A 155 Seiten 21 Euro ven, sagt Leibovici-Mühlberger. Mit der Folge, dass Eltern zwar verzweifel­t sind, weil sich ihre Kinder nicht benehmen, sie trotzdem aber nicht durchgreif­en, „weil sie Angst davor haben, dass ihre Kinder sie dann nicht mehr lieben“. So sei die Zahl der Narzissten unter den heute 35-Jährigen schon dreimal höher als in der Generation davor. „Die Gruppe der Elf- bis 13-Jährigen ist noch gefährdete­r“, sagt sie. Klar sei natürlich, dass nicht alle Kinder (sie ist selbst Mutter von vier) betroffen seien. „Aber es ist ein beträchtli­cher Teil. Wenn es nur 20 Prozent sind, sind es viele.“Das Phänomen sei in den Städten mehr vorhanden als am Land, dafür aber in ganz Österreich – und ziehe sich durch alle Schichten.

Was also tun? Eltern sollen ihre Rolle als Eltern und die Verantwort­ung dafür wieder wahrnehmen, fordert sie. Den Kindern Grenzen setzen, lieber in den Wald spazieren gehen als ins Kino, wo man nichts redet. Denn sonst würde die Welt von Spinnern, die keine Beiträge zum Sozialsyst­em leisten können, beherrscht oder von Narzissten, wie sie sie am Ende des Buches beschreibt: Die bringen ihre Eltern um, weil die Beiträge, die sie ins Sozialsyst­em eingezahlt haben, aufgebrauc­ht sind.

Kinder, die spinnen, waren früher Einzelfäll­e. Jetzt sind sie ein Massenphän­omen.

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