Vom Vater zum »Übermenschen« gedrillt
15 Jahre lang war sie auf einem Anwesen gefangen, heute hilft sie Opfern, sich aus der Unterwerfung zu befreien: »Die Presse am Sonntag« sprach mit der Französin Maude Julien über die grausame Erziehung durch den wahnhaften Vater – und ihr Entkommen.
Das Schloss“, nennt sie das Haus, in dem sie so lang eingeschlossen war. Der Einzug ins „Schloss“markierte den Beginn von Maude Juliens furchtbarer Kindheit. Die Leidensgeschichte ihrer Mutter Jeannine begann viel früher: 1936 adoptierte der 34-jährige Louis Didier, erfolgreicher Unternehmer im nordfranzösischen Lille und Freimaurer im Meistergrad, eine Sechsjährige aus einer armen Bergarbeiterfamilie. Er schickte sie in ein Internat und ließ sie studieren, alles für seinen großen Plan: Sie sollte ein Kind zur Welt bringen, das wie er eine „Auserwählte“wäre. Unterrichtet von der Mutter, würde es fern von der verdorbenen Welt aufwachsen und sich auf bedeutende Aufgaben vorbereiten. Diese „Auserwählte“war Maude. 1957 gab der Vater seine Geschäfte auf und kaufte ein Anwesen mit Garten in der Nähe von Lille, wohin er sich mit seiner Frau und der vierjährigen Tochter zurückzog.
Die Jahre danach beschreibt die heute 58-jährige Maude Julien erschütternd im Buch „Der Wille meines Vaters“. Zuneigung und Zärtlichkeit erfährt das Mädchen nur von ein paar Tieren. Der Vater will sie mit grausamen Erziehungsmethoden abhärten und ihre Willenskraft trainieren (s. Seite 37); die ihm hörige Mutter ist seine Komplizin. Was für Aufgaben Maude später erfüllen soll, bleibt widersprüchlich: Einmal sagt der Vater, Maude dürfe das Haus nie verlassen und müsse nach seinem Tod sein Gedächtnis hüten, bis er wiederkomme; ein anderes Mal heißt es, sie könne alles werden, etwa Präsidentin von Frankreich; wieder ein anderes Mal, sie müsse sich im Haus bereithalten für den Tag, an dem sie zu ihren Aufgaben gerufen werde.
Klar ist dafür der fast pausenlose Stundenplan. Maude soll nicht nur eine Ausbildung bekommen wie in den besten Schulen, sondern auch anderes meisterhaft lernen: etwa stundenlang stocksteif sitzen – auch allein im finsteren Keller –, mit ihrem Geist die Materie bewegen, perfekt Klavier spielen, reiten und schwimmen, härteste Arbeit verrichten. Erst als Teenager findet sie zu Momenten der Rebellion. Mit 19 entkommt sie dem schon geschwächten Vater durch einen von ihm selbst eingefädelten Plan: Er befindet, seine Tochter müsse heiraten, mit 21 Jahren solle sie zu ihrer „Initiation“wiederkehren. Maude kommt nicht zurück. Viele Jahre später wird sie Psychotherapeutin – und behandelt heute auch Opfer von Unterwerfung. Oger nennen Sie Menschen, die andere völlig zu unterwerfen suchen, wie es in extremer Form Ihr Vater, Josef Fritzl oder der Entführer von Natascha Kampusch getan haben. Wo sehen Sie bei diesen drei Männern den gemeinsamen psychischen Nenner? Der Oger will die innere Welt des anderen zunichtemachen. Es ist ihm unmöglich, den anderen in seinem Anderssein zu akzeptieren. Allein der Gedanke, der andere könnte eigene Wünsche haben, ist ihm unerträglich, er verleugnet dessen Recht, außerhalb von ihm zu existieren. Der andere existiert für ihn kaum, folglich kann er ihn auch ohne Schuldgefühl isolieren, schlagen, vergewaltigen oder versklaven. Meist, aber nicht immer ist der Unterwerfer ein Mann und das Opfer eine Frau. Es ist dasselbe wie bei Sekten mit ihren Gurus. Es gibt auch Zweipersonensekten. Und fast immer beginnen sie mit einer Verführung. Ihr Vater sagte, dass er alles nur für Sie tue. Beteuerungen der „einzigen“, „wahren“Liebe gehören oft zum System der Unterwerfung, schreiben Sie. Warum?
Geboren 1957.
Die Zeit zwischen vier und 19 Jahren verbringt sie abgeschottet von der Außenwelt in einem großen Anwesen in der Nähe von Cassel, zwischen Lille und Dunkerque.
Seit 20 Jahren
arbeitet sie als Psychotherapeutin und hilft dabei vor allem Opfern von Unterwerfung. Sie lebt und arbeitet in Paris. So isolieren die Täter das Opfer. Sie sagen: „Unsere Liebe ist so groß, niemand außer uns versteht das, niemand sonst wird dich so lieben wie ich.“Das bedeutet: Du kannst atmen nur durch mich, alles außerhalb von mir ist gefährlich. Oger sind von Angst beherrscht, versuchen aber nicht, sie zu überwinden, sondern rechtfertigen sie, indem sie sagen: Draußen ist es gefährlich. Wenn es den anderen nicht mehr gibt, ist er auch nicht mehr gefährlich. Oger haben kein Selbstwertgefühl. Sie müssen dich zertreten, um selbst Wert zu haben. Und sie haben einen gewissen Vorteil an Intelligenz dadurch, dass sie nicht von Gefühlen behindert sind. Ihr Vater hatte aber auch sehr esoterische, wahnhaft wirkende Vorstellungen . . . Ich glaube, er litt immer mehr an Größenwahnsinn und Paranoia. Was er um jeden Preis wollte, war, durch mich zu reinkarnieren. Vielleicht noch verstörender für den Leser ist die schreckliche Stellung der Mutter in dem Gefüge. Sie war Ihrem Vater hörig, war aber für ihn nur Mittel zum Zweck – nämlich Sie, Maude, die „Auserwählte“zu ermöglichen. Sie musste Sie fast hassen . . . Ja, wegen mir war ihr Leben die Hölle. Mein Vater hat ihr auch nicht erlaubt, Mutter zu sein. Lebt sie noch? Wie hat sich nach dem Tod des Vaters 1979 Ihre Beziehung entwickelt? Sie lebt und ist jetzt 86. Das Verhältnis zwischen uns ist sehr, sehr angespannt. Was ich immer noch hoffe, ist, dass sie das System einmal verlässt. Welches System? Ihr Vater ist doch tot. Aber sie hofft immer noch auf seine Rückkehr – und fürchtet sie gleichzeitig. Ich hoffe immer noch, dass sie einmal erkennt, dass sie Opfer war. Liest man das Buch, fragt man sich: Hätte die kleine Maude ohne den Hund, das Pferd, die Ente auf dem Anwesen überlebt – innerlich, vielleicht auch äußerlich? Ohne die Tiere wäre ich seelisch bald gestorben, davon bin ich felsenfest überzeugt. Wenn ich überlebt habe, dann wegen der Tiere, ihrer Zärtlichkeit, dem körperlichen Kontakt. Nur von ihnen habe ich je einen freundlichen Blick bekommen. Später kamen als zweite Überlebenshilfe die Bücher dazu, auch die Musik – Klavierspielen war für mich wie ein Gespräch. Heute ist eine meiner wichtigsten Botschaften die: Man kann sich mit so vielen kleinen Aktionen die Freiheit nehmen! Selbst im Gefängnis findet man Mittel, um zu überleben. In meinem Buch wollte ich ein Beispiel für eine solche Flucht geben – eine Gebrauchsanweisung fürs Entkommen. Nach Ihrer auch körperlichen Flucht haben Sie viele Jahre lang geschwiegen. Dass man Bekannten, Freunden nichts erzählt, verstehe ich noch. Warum aber haben Sie nicht einmal mit Ihrem Mann darüber geredet? Ich hatte Angst, er würde mich nicht mehr lieben. Wenn die anderen wissen, was passiert ist, denkt man sich, dann werden sie einen ablehnen. Als Erstes nämlich zerstört der Täter dein Selbstbewusstsein. Ein Kind, das rebellieren darf, weiß, dass es als ganze Person angenommen wird. Ein Kind, das sich immer unterwerfen muss, traut sich nicht, seinen Platz einzunehmen. Meine Eltern gaben mir das Gefühl, nicht normal zu sein: Wenn ich reden würde, würde ich in eine Irrenanstalt gesperrt. Ich hatte in meiner Kindheit immer wieder lange Zeiten totaler Stummheit. Sie sind heute eine anerkannte Therapeutin. Haben sich viele einstige Opfer von Unter- werfung bei Ihnen gemeldet, nachdem das Buch erschienen ist? Nach der Veröffentlichung und nachdem die ersten Übersetzungen im Ausland erschienen sind, habe ich Hunderte Zuschriften bekommen. Etliche kamen von Psychiatern und Psychotherapeuten, die Ähnliches selbst erlebt hatten und so wie ich deswegen diesen Beruf ergriffen haben. Manche haben mir geschrieben, dass sie erst jetzt, nach der Lektüre meines Buchs, über ihre eigenen Erfahrungen schreiben und reden können. Was erschwert das Reden am meisten? Der Mantel der Scham. Es gibt Frauen, die 20 Jahre lang misshandelt werden und nichts sagen. Kinder, die geschlagen wurden, kriegt man kaum zum Reden. Manche reden erst, wenn der Täter gestorben ist. „Klagt!“, ermuntere ich meine Patienten immer. Je weniger man darüber redet, desto mehr zerstört man sich. Und durch mein Buch habe ich erfahren: Wenn einer mit dem Reden anfängt, tun es andere auch. Wer spät redet, riskiert auch, dass man ihm weniger glaubt. Leider. Auch deswegen muss man zuallererst lernen zu erzählen. Ich beobachte genau die Reaktionen von zuständigen Organisationen. Wie oft kriegen die Opfer dort den Vorwurf zu hören: „Wa- rum haben Sie denn nicht früher etwas gesagt?!“Warum wohl! Reden lernt man. Dafür braucht es ein Klima des Vertrauens. Jahrelange Isolation und Unterwerfung sind immer wieder möglich, ohne dass Nachbarn oder Behörden etwas bemerken. Worauf kann und soll man achten? Ich kann nur immer wieder dazu aufrufen, wachsam zu sein, sobald etwas nur „ein bisschen komisch“wirkt. Und man sollte nie vergessen, dass der Räuber fast immer ein Charmeur ist, der seine Umgebung verführt, um sie einzuschläfern. Gerade das Opfer ist es oft, das durch sein Leiden und seine Angst unsympathisch, nervös wirkt! Es wendet den Blick ab, wirkt unwirsch . . . Das Beste, was Nachbarn machen können, wenn sie einen Verdacht haben, ist zu lächeln, eine freundliche Geste zu machen. Damit gibt man dem Opfer zu verstehen, dass es nicht stimmt, was sein Räuber sagt: „Draußen ist die Hölle – und nur ich kann dich beschützen.“ Bemerkenswert ist, wie Sie gelernt haben, mit Ihrer Vergangenheit zu leben. So haben Sie in der Vorstellung und auch zeichnerisch Ihr eigenes „Schloss“gebaut und jeden Raum so entworfen, dass er einem Ihrer Bedürfnisse entsprach oder eine der Blockaden löste. Die getrennten Räume hät-