Die manische Neuerfindung des Romans
819 Seiten. Frank Witzel deutet schon mit dem Titel seines Siegerromans beim Deutschen Buchpreis an, was er da vorhat: nämlich sich und vor allem den Lesern alles abzuverlangen. Die Mutter aller dicken Bücher der Generation X, Y und whatever ist wahrscheinlich „Infinite Jest“von David Foster Wallace. Das Buch hat bei seinem Erscheinen 1996 in die amerikanische Literaturlandschaft eingeschlagen wie ein Komet, Autoren von Jeffrey Eugenides bis Jonathan Franzen reden seither über den Einfluss von Wallace’ 1000-Seiten-Ziegel auf ihr Schreiben.
An dieses Literarisch-aufs-GanzeGehen erinnert „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969“des deutschen Autors, Zeichners und Musikers Frank Witzel. Doch wo Wallace stets fotorealistisch bleibt, entscheidet sich der Träger des Deutschen Buchpreises von 2015 für ein durch und durch abstraktes Textgebilde. Nie kann sich der Leser sicher sein, ob da der 13-jährige Erzähler spricht, der ein besonderes Verhältnis zu einer (nicht der!) RAF pflegt, wenn ja, wie alt er ist und ob gerade zwangspsychiatriert, im Polizeiverhör oder entwachsen erwachsen auf alles zurückblickt. Wer ist der Fabrikant? Der Vater? Die Frau von der Caritas? Claudia und Gernika?
Witzel führt den Leser durch ein literarisches Spiegelkabinett, in dem der Ausgang nicht zu finden ist. Kaum wähnt man sich dem Ich-Erzähler auf den Fersen, findet man sich z. B. in einem seitenlangen Interview wieder, das vom Magazin „Patapsychophysique“mit einem obskuren Psychoanalytiker geführt wird, der auch . . . sein könnte. Näher lässt Witzel den Leser nie kommen. Hat man das einmal akzeptiert (und das dauert seine Zeit), folgt man gern falschen Fährten, rennt gegen Glasscheiben, die doch Spiegel sind, und lauscht einer Sprache, die Bilder entstehen lässt, bevor man noch eine Ahnung hat, was das alles soll. fa