Der Jubel der Waliser Drachen
Nicht England oder Irland halten die Fahnen des Königreichs bei der Fußball-EM hoch, sondern Wales. Der 3:1-Sieg gegen Mitfavorit Belgien war hochverdient, nun brüten Gareth Bale und Co. bereits über der Taktik für das Halbfinale gegen Portugal.
Staunen, jubeln, feiern: Nach dem 3:1 gegen EM-Mitfavorit Belgien waren die Wales-Fans beim Public Viewing in Cardiff außer Rand und Band. „Ich kann es nicht glauben“, sagte ein junger Fan mit Tränen in den Augen. „Absolut fantastisch“, meinte ein anderer. Selbst die sonst so besonnen berichtende BBC ließ sich von der Stimmung mitreißen: „Vor den Augen der Fans wurde Geschichte geschrieben“, schrie ein Reporter.
Nach dem völlig überraschenden Meistertitel von Außenseiter Leicester in der Premier League gilt Wales’ Einzug ins EM-Halbfinale nun als zweites britisches Fußballwunder dieser Saison. „Das ist reine Fußball-Fantasy“, schrieb der „Guardian“. Und mit Blick auf den Brexit und das Achtelfinal-Aus Englands meinte das Blatt lakonisch: „Endlich eine gute Nachricht!“ »Fürchte deine Träume nicht!« Nicht England, sondern die oft belächelten Waliser halten die britischen Fahnen bei der EM hoch. Mit dem Sprung ins Halbfinale sorgten die Drachen für die nächste Sensation in Frankreich. Im Spiel um den Finaleinzug wartet nun am Mittwoch das Duell mit Portugal. „Wenn wir unsere Leistung bringen, kommen wir so weit, wie wir wollen“, sagte Real-Star Gareth Bale.
„Fürchte dich nicht davor, Träume zu haben“, meinte Trainer Chris Coleman nach dem größten Erfolg in der 140-jährigen Verbandsgeschichte. Der 46-Jährige erinnerte an sportlich weitaus finsterere Zeiten. Vor vier Jahre noch sei man davon so weit entfernt gewesen wie die Erde vom Mond. Jetzt sei man quasi gelandet. Besonders für Coleman bedeutet der Triumph viel. Er stand im Herbst 2012 haarscharf vor dem Rauswurf.
Gegen Belgien setzte der ehemalige Teamverteidiger im Angriff auf Hal Robson-Kanu. Der ist seit Donnerstag offiziell vereinslos, nachdem er seinen Vertrag beim englischen Zweitligisten Reading nicht verlängert hat. Der 27-Jährige – laut Coleman „der Albtraum jedes Verteidigers“– avancierte in der 55. Minute mit dem Treffer zum 2:1 zum Man of the Match, nachdem er Belgiens Abwehr mit einem einfachen Trick bloßgestellt hatte. „Wir sind eine Gruppe von Freunden und so unfassbar stolz. Das ist etwas, wofür wir sechs, sieben, acht Jahre hart gearbeitet haben“, sagte Robson-Kanu. Und hinter ihm schallte die walisische Nationalhymne „Hen Wlad Fy Nhadau“(„Altes Land meiner Väter“) sowie der EM-Song „Please don’t send me home“durch die Arena. Wales ist nicht nur Bale. Seit der WM 1958, als in Schweden immerhin der Einzug ins Viertelfinale gelang, wartete die Drei-Millionen-Einwohner-Nation auf ein derartiges Erfolgserlebnis. Dass Wales nicht nur Bale allein ist, wurde in Lille aber ein weiteres Mal klar.
Der Superstar von Real Madrid beschäftigte Belgiens Abwehr zwar, die Akzente setzten aber andere. Allen voran der bei Arsenal spielende Aaron Ramsey zog im Mittelfeld die Fäden. In der Abwehr war Ashley Williams Chef und Torschütze zugleich. Der Kapitän traf per Kopf zum 1:1 (31.). Und im Angriff wirbelte Robson-Kanu, ehe er Sam Vokes Platz machte. Ein weiterer Gold- griff von Coleman. Der bei PremierLeague-Aufsteiger Burnley engagierte Angreifer traf per Kopf im Finish (86.) entscheidend.
Dabei war Österreichs kommender WM-Quali-Gegner von den hoch eingeschätzten Belgiern anfangs überrumpelt worden. Die in der Offensive mit großer individueller Klasse ausgestatteten Roten Teufel agierten mit hohem Pressing, Konsequenz war der herrliche Führungstreffer von Radja Nainggolan (13.). „Als sie getroffen haben, gingen unsere schlimmsten Ängste in Erfüllung“, sagte Coleman.
Dann aber kam das walisische Selbstverständnis, sich nie aufzugeben, wieder zum Tragen. Diese Marschroute hat der EM-Debütant seit dem Start des Turniers durchgezogen. „Ich habe vor dem Anpfiff gesagt, wir sind nicht hier, um uns darüber zu freuen, sondern um mitzuspielen“, sagte Coleman. Er wird gegen Portugal jedoch improvisieren müssen. Ausgerechnet der bei zwei Toren und vier Assists stehende Ramsey erhielt nach einem Handspiel die zweite Gelbe Karte bei dieser EM. Er fehlt damit in Lyon ebenso wie Verteidiger Ben Davies.
»Hen Wlad Fy Nhadau«; Wales singt im Fußballstadion: »Altes Land meiner Väter«.