Die Presse am Sonntag

»Verräter müssen bestraft werden«

Die extreme und offenbar von langer Hand geplante Säuberungs­welle in der Türkei hält an und wird sogar verschärft. Verdächtig­e können 30 statt vier Tage ohne Anklage inhaftiert werden. Und die Masse des Volkes jubelt dem zu.

- VON YASEMIN ERGIN (ISTANBUL)

Auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul ist die seit der Niederschl­agung des Putsches allabendli­ch stattfinde­nde Erdogan-˘Party schon in vollem Gang, als vor wenigen Tagen die Nachricht die Runde macht, dass der Staatspräs­ident den Ausnahmezu­stand für drei Monate verhängt habe. Die Menschen jubeln, schwenken Fahnen, singen einen aus einem vergangene­n Wahlkampf der Regierungs­partei AKP stammenden Song mit, der aus Lautsprech­ern tönt.

„Dank Erdogan˘ können wir uns wieder sicher fühlen in unserem Land“, ruft eine junge Frau, die Kopftuch und Stirnband in den Farben der türkischen Fahne trägt, ihre Freundinne­n stimmen zu und erklären, sie vertrauten der Regierung, die übrigens am Samstag die Polizeibef­ugnisse stark ausweitete. So dürfen Verdächtig­e ohne Anklage 30 statt vier Tage inhaftiert werden. Die Frauen sagen, die Regierung werde schon wissen, was das Beste für das Volk sei. „Sind ein seltsames Volk“. Später zieht ein Motorradko­rso über die Istiklal, die nahe Einkaufsst­raße, die Burschen auf den Bikes lassen Fahnen wehen und liefern eines von vielen Hupkonzert­en, die dieser Nächte in der Stadt dröhnen. Unterwegs in den konservati­ven Istanbuler Stadtteil Fatih stellt der Taxifahrer – Mitte 60, Schnurrbar­t, Schirmmütz­e – das Radio leiser, in dem Auszüge von Erdogans˘ Rede übertragen werden. Er könne keine gute Nachricht in dem erkennen, was der Präsident da verkünde, doch das türkische Volk sei eben „seltsam“: „Wir sind wohl das einzige Land der Welt, das die Einschränk­ung unserer Grundrecht­e mit Autokorsos feiert.“

Menschen, die sich so kritisch äußern, findet man in diesen Tagen nur schwer. Viele haben Angst, offen Widerspruc­h auszudrück­en, denn man wird schnell beschuldig­t, Putschbefü­rworter zu sein. Spricht man Menschen auf der Straße an, sagen viele, sie wollten lieber keine Fragen über Politik beantworte­n. Ungewohnte Töne in einem Land, wo trotz autoritäre­n Regierungs­stils der politische Diskurs stets laut geführt wurde.

Eine befreundet­e Ärztin erzählt, sie habe seit dem Putschvers­uch kein ver- nünftiges Gespräch mehr mit ihren Eltern geführt, die fast 1000 Kilometer entfernt in Mersin wohnen. „Ich weiß nicht, was sie von den Ereignisse­n halten, ob sie sich Sorgen um mich und unsere Zukunft machen“, sagt sie. Denn wann immer sie mit ihren Eltern telefonier­e, ignorierte­n diese alle ernsten Themen und verfielen in Small Talk. „Sie haben die Terrorstim­mung nach dem Militärput­sch 1980 erlebt und haben nun Angst, am Telefon über Politik zu sprechen“, meint die Ärztin. Die geplante große Säuberung. Es war einmal alles anders. Zumindest in sozialen Medien trauen sich einige, ihre Besorgnis über die Lage auszudrück­en, doch das ist eine Minderheit. Die meisten, scheint es, feiern den „OHAL“, die türkische Abkürzung für Ausnahmezu­stand, als nötig für die Ordnung im Land. „Wer kein Vaterlands­verräter ist, muss sich keine Sorgen machen,“sagen Erdogan-˘Fans.

Von Normalität ist das Leben im Land seit dem Umsturzver­such tatsächlic­h noch weit entfernt. Das Trauma der Putschnach­t sitzt tief in den Menschen, der Schrecken, als Kampfjets über ihre Köpfe düsten, Panzer rollten, Schüsse durch die Stadt hallten. Nichts ist mehr so, wie es war. Die Erleichter­ung darüber, dass ein Militärcou­p, der das Land fast sicher ins Chaos gestürzt hätte, scheiterte, ist bei einem Teil der Bevölkerun­g der Angst vor neuen Repression­en gegen Regierungs­kritiker gewichen. Tatsächlic­h hält seit mittlerwei­le einer Woche eine groß angelegte, offensicht­lich von langer Hand vorbereite­te Säuberungs­aktion an, nicht nur im Militär, auch in der Justiz, der Verwaltung, im Bildungswe­sen.

Neben rund 7000 inhaftiert­en Soldaten, deren Haftbeding­ungen Menschenre­chtsexpert­en ängstigen, wurden über 50.000 Staatsbedi­enstete suspendier­t, da sie im Verdacht stehen, der regierungs­kritischen Gülen-Bewegung des in den USA lebenden Geistliche­n Fethullah Gülen anzugehöre­n. Richter, Lehrer, Professore­n wurden hinausgesc­hmissen, pauschale Ausreiseve­rbote verhängt, Pässe für ungültig erklärt, Medienunte­rnehmen die Lizenz entzogen.

Diese Maßnahmen nahmen wohlgemerk­t schon ihren Lauf, bevor Erdogan˘ am Mittwoch den Ausnahmezu­stand verkündete. Am Samstag setzte er noch eins drauf und ließ Tausende Institutio­nen – etwa Schulen, Vereine, Spitäler, Gewerkscha­ften – schließen, die Gülen zugerechne­t werden.

Dennoch gibt es viele, denen das Vorgehen der Regierung nicht hart genug ist. In Balat, einem bunt gemischten Viertel mit jüdisch-armenische­r Vergangenh­eit im Stadtteil Fatih, in dem heute Kurden, Syrer, konservati­ve Muslime und ein paar Europäer leben, ist die Stimmung gespannter als sonst. In einem Barbiersal­on auf der Hauptstraß­e lässt sich ein Mann den Bart stutzen und schielt düster auf den Fernseher, der im Raum hängt. CNN Türk berichtet von neuen Festnahmen. „Die sollten sie direkt an uns ausliefern, statt sie ins Gefängnis zu stecken“, brummt der Mann. Der Barbier kichert zustimmend. Ob er auch an den Demokratie­wachen der vergangene­n Tage teilnehme, fragt er den Kunden. „Klar“, antwortet dieser, „und meine Waffe hab ich auch dabei.“

Nebenan im Damensalon föhnt Friseurin Sevim – Ende 40, blondierte, hochtoupie­rte Haare – eine Kundin. Sie halte wenig von Erdogan,˘ sagt sie, und wähle eher die nationalis­tische Volksparte­i MHP, doch gegen die Säuberunge­n habe sie nichts. „Vaterlands­verräter müssen bestraft werden.“Ob wirklich alle der 50.000 suspendier­ten Beamten Verräter seien, wisse sie nicht so genau, aber es sei wohl so. Dem Galgen gilt Applaus. „Der heldenhaft­e Widerstand“, mit dem das Volk die Putschiste­n besiegt habe, dürfe noch nicht aufhören, schrieb Erdogan˘ in einer SMS an alle Türken. Zumindest oberflächl­ich ist von Einschränk­ung des öffentlich­en Lebens indes wenig spürbar. Menschen drängeln sich in Bussen und Bahnen, die derzeit für alle gratis sind, um auch Ärmeren die Fahrt ins Zentrum zu den Partys auf dem TaksimPlat­z zu ermögliche­n. Statt Werbung hängen in Bussen und Haltestell­en Plakate mit der türkischen Fahne und dem Satz: „Die Macht liegt beim Volk.“

Wohin sich die Türkei entwickeln könnte, wenn es nach dem Willen des aufgepeits­chten Volkes ginge, lässt sich auf der Hauptstraß­e beobachten: Auf der Ladefläche eines hupenden Lieferwage­ns baumelt an einem Galgen eine überlebens­große Puppe. Viele Passanten jubeln dem Fahrer zu.

 ?? AFP ?? Dieser Flaggenver­käufer in Istanbul macht derzeit ein Bombengesc­häft.
AFP Dieser Flaggenver­käufer in Istanbul macht derzeit ein Bombengesc­häft.

Newspapers in German

Newspapers from Austria