Ein Klima für die Zivilgesellschaft
»Ohne Lobby, ohne Geld, ohne politischen Einfluss« haben sie den Bau der dritten Piste des Flughafens Wien vorerst verhindert. Was treibt Menschen wie Jutta Leth und Adolf Hrncir an?
Adolf Hrncir denkt weniger an das ausgegebene Geld und die Demütigungen. „Es hat vor allem viele Abende gekostet“, sagt der 49-jährige Wiener. Abende, die er mit Frau und Tochter hätte verbringen können. Stattdessen wälzte der Betriebswirt Aktenordner, grübelte über Bescheide oder verfasste komplexe Stellungnahmen. Adolf Hrncir ist Obmann der mehr als hundert Mitglieder zählenden Antifluglärmgemeinschaft. Seit zwölf Jahren kämpft er gegen den Bau der dritten Piste des Flughafens Wien. Jetzt hofft er, „dass sich alles bezahlt gemacht hat“.
Der Bau wurde vom Bundesverwaltungsgericht untersagt. Am 9. Februar wurde das Urteil bekannt gegeben. In dem Erkenntnis stellten die Richter die Interessen des Klimaschutzes und den Bodenverbrauch über standort- und arbeitsmarktpolitische Aspekte. Doch in dieser Geschichte geht es nicht darum, dass das Gericht den Argumenten der Flughafengegner gefolgt ist, wie Adolf Hrncir meint. Es geht nicht um Für und Wider eines aufsehenderregenden Urteils.
Adolf Hrncir und Hunderte Mitstreiter stehen für eine „bürgerliche Gesellschaft“, wie sie John Locke, der große britische Philosoph und Vater des Liberalismus, bereits im 17. Jahrhundert beschrieben hat. Null Lobby, null Geld. Natürlich freue sie sich über das einstweilige Nein zur dritten Piste, sagt Jutta Leth. „Vielleicht haben wir doch etwas bewegen können“, sagt die Oberärztin im Otto-Wagner-Spital. „Mit null Lobby, null Geld und null politischem Einfluss.“
22 Millionen Euro investierte der Flughafen Wien in die Umsetzung des Großprojekts, engagierte die besten Juristen, die besten Gutachter. „Doch wir waren einfach besser“, sagt die Fachärztin für Psychiatrie.
Jutta Leth ist in Zwölfaxing aufgewachsen. Ihr Vater war in dem kleinen Ort in der Nähe das Flughafens Volksschuldirektor. Sie selbst studierte Medizin und zog Mitte der 1990er-Jahre mit ihren beiden kleinen Töchtern in ihr Heimatdorf zurück.
Wenig später kam ein Vertreter des Flughafens und hielt im Ort einen Vortrag über den Bau der dritten Piste. „Der hat eine Zigarette nach der anderen geraucht und uns mehr oder weniger zu verstehen gegeben, dass wir ja wegziehen können, wenn uns was nicht passt“, erinnert sich die Ärztin. Es sei diese Präpotenz der Macht gewesen, die sie zur Aktivistin werden ließ. Anfangs noch zaghaft, schließlich waren die Kinder noch klein. Aber seit 2005 kämpft Leth an vorderster Front. Sie absolvierte sogar eine Ausbildung zur Umweltmedizinerin, verfasste mehrere Gutachten. „Zum Glück war keiner von uns auf einem Egotrip, jeder trug seinen Teil bei“, sagt sie. Einen Teil zu einer Zivilgesellschaft, die so mancher schon in Auflösung wähnt. „Soziales Kapital“sinkt. Für den USamerikanischen Soziologen Charles Murray ist das sinkende private Engagement ein Hauptgrund für das Auseinanderdriften der Gesellschaft. In seinem 2012 erschienen Buch „Coming Apart“führt er die zunehmende Ungleichheit in den Vereinigten Staaten darauf zurück, dass die Mittelschicht sich immer weniger in Vereinen organisiert, sich weniger für soziale, ökologische und regionale Probleme engagiert. In seinem Bestseller „Bowling Alone“kommt Robert Putnam auf ein ähnliches Ergebnis. Seit 1970 sei das „soziale Kapital“in den USA dramatisch gesunken. Eine Diagnose, die man vielerorts auch auf Europa umlegen kann. Putnam machte Fernsehen und Internet dafür verantwortlich, dass sich die Menschen nicht mehr so eifrig in die Gesellschaft einbringen.
Dass der technische Fortschritt die Menschen gleichgültig macht, hörte schon der französische Gelehrte Alexis de Tocqueville Anfang des 19. Jahrhunderts. Doch nicht die Technologie sei es, die den Menschen träge mache, sondern der Staat, indem er „Sicherheit von der Wiege bis zur Bahre“verspreche, entgegnete er. Lange Zeit belächelt. „Man kann seine Lebenszeit viel dümmer verbringen“, sagt Ruth Leth zurückblickend. „Irgendwann wollte ich meinen beiden Töchtern auch zeigen, dass man sich nicht in die Knie zwingen lässt, bevor man nicht alles probiert hat.“Viele Jahre sei sie belächelt worden. Von den Richtern in diversen Zivilprozessen, von Politikern und Managern. „Wissen Sie, wie viele Gerichtsverhandlungen ich ertragen habe?“fragt sie.
Mittlerweile werden sie und ihre Mitstreiter nicht mehr für schrullige Öko-Freaks gehalten. Seit wenigen Tagen sind sie eine Gefahr für Arbeitsplätze und Fortschritt in diesem Land. So oder so ähnlich argumentieren nun Flughafenmanager und Politiker.
„Wahres Bürgertum beinhaltet nicht nur zu wählen, Geld zu verdienen und nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Es bedeutet auch, über den Tellerrand der Kleinfamilie hinauszuschauen und sich dort zu engagieren, wo Verhaltensregeln entwickelt und durchgesetzt werden: kurz, wo wir lernen, uns selbst zu regieren. Unsere Kinder erziehen. Uns um Bedürftige zu kümmern. Verbrechen zu bekämpfen. Die Straßen sauber zu halten“, schreibt der Historiker und Harvard-Professor Niall Ferguson. Oder eben die Umwelt sauber zu halten, wie es Adolf Hrncir, Jutta Leth und viele andere tun. Man mag ihr Engagement begrüßen oder kritisieren. John Locke sagte vor mehr als 300 Jahren: „Die größten Irrtümer geschehen aus Gleichgültigkeit.“