»Wir haben auch zu viel Europageschwätz«
»Ich wundere mich, mit welcher Frechheit der türkische Staat glaubt, ein Recht zu haben, in Europa Wahlkampf zu führen«, sagt der deutsche Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski. Die Angst vor einer Islamisierung teilt er. Die Hetze gegen vermeint
Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdo˘gan, will in Europa für seine Verfassungsreform werben. Die Niederlande ließen das nicht zu. Auch Deutschland will sich die Einreise türkischer Minister vorbehalten. Finden Sie das richtig? Rüdiger Safranski: Auf jeden Fall. Ich wundere mich, dass man es bisher erlaubt hat. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in einem Eilbeschluss ausdrücklich erklärt, dass für eine fremde Macht kein Anspruch besteht, auf deutschem Boden Wahlkampf zu führen. Die Regierung kann das jederzeit untersagen. Es geht nicht um Meinungsfreiheit, sondern um staatliches Handeln türkischer Staatsorgane auf deutschem Boden. Mit anderen Worten: Es geht um die deutsche Souveränität. Die Reaktionen von Angela Merkel werden dem überhaupt nicht gerecht. Es fehlt an der notwendigen demokratischen Selbstachtung. Wie hätte Merkel denn reagieren sollen? Wenn man als faschistisches Land beschimpft wird, wäre es wohl das Mindeste gewesen, den türkischen Botschafter einzubestellen und eine Entschuldigung in aller Form zu verlangen. Nichts dergleichen ist geschehen. Von einem ausdrücklichen Verbot von türkischen Wahlkampfauftritten ganz zu schweigen. Daran merken wir, dass Merkel eine Geisel ihres Flüchtlingsabkommens mit der Türkei ist. Die Niederländer hingegen haben sich eindrucksvoll verhalten. Ich wundere mich, mit welcher Frechheit der türkische Staat glaubt, ein Recht zu haben, hier Wahlkampf zu führen. Ich vermisse auch, dass deutlich gemacht wird, worum es geht: Der Tyrann Erdogan˘ versucht, durch Wahlkampf in Europa Leute für seine Tyrannei zu mobilisieren. Es geht ja hier nicht um normale demokratische Wahlen. Erdogan˘ errichtet ein undemokratisches Führersystem, und Europa soll ihm auch noch erlauben, dafür Reklame zu machen. Das ist alles sehr beunruhigend. Noch etwas kommt hinzu: Es gibt Umfragen, wonach die Deutschtürken wohl mit einer Mehrheit von 60 bis 65 Prozent für Erdogan˘ stimmen werden. Das sind Leute, die hier in einer Demokratie leben, aber in Bezug auf die Türkei für ein autoritäres System votieren. Das ist ein alarmierendes Zeichen. Wie erklären Sie sich das? Es zeigt, wie gering der Integrationserfolg ist. Man hat auch nicht gut daran getan, die doppelte Staatsbürgerschaft zuzugestehen. So kann keine Loyalität mit unserem demokratischen Gemeinwesen entstehen. Und deshalb wird wahrscheinlich die Mehrheit der Deutschtürken für die Diktatur stimmen. Was hat Deutschland in Fragen der Integration verabsäumt? Das ist eine lange Liste der Versäumnisse. Mit der Sprache fängt es an. Es ist besorgniserregend, dass auch in der dritten Generation die sprachliche Integration nicht so ist, wie man das erwarten könnte. Zusammenfassend kann man sagen: Wenn es begünstigt wird, dass Eingewanderte schon allein wegen ihrer großen Zahl in ihren Subkulturen und Parallelgesellschaften bleiben, ist der Anreiz, sich auf die Kultur, Sprache und Lebensgewohnheiten der Umgebung einzulassen, gering. Wie wirkt sich Integration auf Identität aus? Menschen, die in ein anderes Land einwandern, sind stärker, als es sonst der Fall wäre, dahin orientiert, sich klarzumachen, wer sie eigentlich sind. Das gilt aber auch für diejenigen, die sie aufneh- men. Die ganze Frage „Was ist deutsch?“stellt sich ja gewöhnlich eher selten. Erst in der Konfrontation wird sie dringlich. Jenseits vom politischen Stress kann die Frage spannend sein, wenn man beispielsweise das Besondere der Romantik oder des Idealismus erkunden möchte. Aber ich selbst stelle mir in der Regel doch nicht die Frage: „Was ist deutsch an mir?“Diese Frage lässt sich entweder sehr kurz beantworten, mit der Ausstellung eines Personalausweises etwa, oder nur sehr ausführlich, und das heißt zu ausführlich für das politische Handgemenge. Es ist jedenfalls ehrlicher, wenn ich sage: „Ich bin ein Deutscher“, und nicht, wie es neuerdings auf Merkel-Deutsch heißt: „Ich gehöre zu denen, die schon länger hier leben.“ In der eigenen Heimat beschäftigt einen die Identitätsfrage demnach nicht so sehr? So ist es. Die Frage nach der Identität ist existenziell gesehen so kompliziert, dass ganze Romane darüber geschrieben werden können. Vorsicht deshalb bei der immer unterkomplexen politischen Instrumentalisierung der Identitätsfrage. De facto spielt sie doch eine Rolle. Natürlich, aber was verbirgt sich dahinter? Die Ängste in Deutschland vor einer zu großen Einwanderung haben letztlich nicht so viel mit Identität zu tun, sondern damit, dass die Leute rechnen können. Der Sozialstaat ist ein Umlagestaat. Eine bestimmte Anzahl an Mitgliedern als Solidargemeinschaft finanzieren ihn über Steuern. Und es ist wichtig zu wissen, wie viele Mitglieder es gibt. Wenn es Einwanderung in soziale Netze gibt, wird der Sozialstaat irgendwann einmal nicht mehr finanzierbar oder nur mit starken Einbußen. Das hat also mit nüchternen Tatsachen zu tun, nicht mit Identitäten. Viele fürchten auch eine Islamisierung. Und diese Ängste werden häufig mit Islamophobie verteufelt. Wenn ein paar Millionen Muslime da sind, dann ist auch eine muslimische Kultur mit ihrer Scharia da, auch wenn das längst nicht alle Muslime so wollen. Das schwächt den demokratischen Rechtsstaat und untergräbt das staatliche Gewaltmonopol. Auch angesichts dieser höchst realistischen Gefahren bei muslimischer Masseneinwanderung braucht man nicht diese wolkigen Reden über Identität. Auch hier geht es um sehr konkret benennbare Probleme. Die Hetze gegen vermeintliche Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit dient nur der Wahrnehmungsverweigerung. Wirklichkeit wird offensichtlich sehr unterschiedlich wahrgenommen. Aber es gibt einen Bestandteil an dieser Wirklichkeit, bei dem es nicht um ein Wahrnehmungs-, sondern um ein Zahlenproblem geht. Man kann nicht wegdiskutieren, dass seit 2014 zwischen zwei und drei Millionen zumeist schlecht oder gar nicht qualifizierte Menschen, der geringere Teil als Flüchtlinge, nach Deutschland eingewandert sind. Das sind Fakten, nicht Meinungen. In der Postmoderne galt: Es gibt keine Tatsachen, sondern nur Interpretation. Das ist eine Luxuseinstellung, wenn es um nicht sehr viel geht. Wieso haben Fakten an Bedeutung verloren? Viele Leute sind die Verwöhnung gewöhnt. Sie denken, das Geld des Sozialstaats kommt gewissermaßen aus der Steckdose. Dass Sozialsysteme von denen getragen werden, die in Arbeit sind, und deshalb eine bestimmte Begrenzung haben, machen sich manche gar nicht klar. Genauso haben sich die Leute, die von der Überwindung des Nationalstaates und der Grenzen schwadronieren, nicht klargemacht, dass der
. . . woran Sie gerade schreiben? Während wir gerade große, kollektive Probleme wälzen, schreibe ich über das Gegenteil, ein Buch über den Einzelnen. Ich schreibe, wie schwierig es ist, ein Einzelner zu bleiben und nicht mit den Wölfen zu heulen. . . . wie Sie auf dieses Thema kommen? Es ist wohl so eine Art innere Kompensation. Man muss sich klarmachen, dass man selbst ein eigenes Leben hat und nicht nur das kollektive Problem ist, das man im Kopf herumträgt. Wenn Sie so wollen, es wird ein neoexistenzialistisches Buch. . . . ob nicht ohnehin heute Individualität und Selbstfindung besonders hochgehalten werden? Das halte ich für Marketing. In Wirklichkeit ist durch die Vernetzung und dauernde Kommunikation der Konformismus so groß wie nie zuvor. Individuell ist meistens gar nichts, da brauchen wir uns nichts vormachen. Wohlfahrtsstaat den Nationalstaat voraussetzt. Und auch für die Menschenrechte gilt, dass sie ein funktionierendes Staatswesen voraussetzen, das ihre Geltung wenigstens in seinen Grenzen gewährleisten kann. Deshalb gibt es ein elementares Interesse, diese Staaten funktionsfähig zu erhalten. Was ist Ihrer Meinung nach das Gebot der Stunde? Wir müssen zu einer kontrollierten Einwanderung kommen, der Nachdruck liegt auf „kontrolliert“. Und das heißt: Europa kann nicht die Riesenprobleme Afrikas lösen, es kann bei Weitem nicht alle aufnehmen, die nach Europa wollen. Europa muss in der Lage sein, seine Grenzen zu schützen, und darf das nicht an ein sich zur Tyrannei entwickelndes System in der Türkei abtreten. Wahrscheinlich ist das die wichtigste Aufgabe neben der anderen Aufgabe: diejenigen Eingewanderten, die eine Bleibeperspektive haben, zu integrieren. Die vergangenen Zeiten waren vom Ost-West-Gegensatz geprägt, dann gab es eine Phase der Neuorganisation, und jetzt kommt die Phase der weltweiten Migrationen, Völkerwanderung im großen Stil. Wie sehen Sie die Zukunft Europas? Vielleicht gibt es Europa, so wie es jetzt existiert, bald nicht mehr. Es kann sein, dass es auseinanderbricht. Es kann aber auch sein, dass es zusammenhält und sich aufrichtet an der Bewältigung der wirklich ernsthaften Probleme, wie eben Schutz der Außengrenzen, innere Sicherheit und die Fähigkeit zur Selbstverteidigung gegen äußere Gefahren. Mit dem Regelungsfuror der Brüsseler Bürokratie wäre es dann hoffentlich vorbei. Kurz: Dort, wo es wichtig ist, haben wir zu wenig Europa, und in anderen Bereichen haben wir zuviel Europa und auch zuviel Europageschwätz.