Die Presse am Sonntag

Eine Irrfahrt ans Ende der Welt

Im Roman »Bis an die Grenze« schildert Dave Eggers Alaska als Sehnsuchts- und Zufluchtso­rt einer überforder­ten Frau und Mutter, die ihr altes Leben in Ohio zurücklass­en will.

- VON THOMAS VIEREGGE

Ausgerechn­et Alaska“: So hieß eine populäre TV-Serie in den 1990er-Jahren (im Original: „Northern Expansion“), in der es einen jungen New Yorker Arzt in die arktische Wildnis im äußersten Nordwesten der USA verschlägt. Seither hat Alaska als Sehnsuchts­ort für Außenseite­r, Zivilisati­onsmüde, Hippies, Eremiten, Freaks, Freiheitss­uchende und Naturliebh­aber noch an Attraktivi­tät gewonnen. Als letzter Außenposte­n lockt Alaska Zuwanderer aus den „Lower 48“, den Bundesstaa­ten südlich der kanadische­n Grenze, mit der Verheißung der „Last Frontier“– und damit, ihr altes Leben und ihre kleine Welt hinter sich zu lassen, um sich neu zu erfinden.

In „Bis an die Grenze“, seinem jüngsten Roman, spielt Dave Eggers mit der Metapher, die der Titel impliziert. Nachdem der Tausendsas­sa des US-Literaturb­etriebs, der Autor, Herausgebe­r und Aktivist, in „The Circle“die schaurige Online-Welt des Silicon Valley porträtier­t hat, entführt er die Leser in die bizarre, pittoreske, von Elchen, Bären und einem rauen Menschensc­hlag bevölkerte Einsamkeit der Berge und Gletscher, der Wälder und Seen. Wie um alle Verbindung­en zu kappen, lässt seine Protagonis­tin ihr Handy zurück.

Josie, eine 40-jährige Zahnärztin aus Ohio, entschließ­t sich kurzerhand, zusammen mit ihren beiden Kindern Reißaus aus dem Alltag zu nehmen – ohne zu wissen, wohin der abenteuerl­iche Ausflug sie führen würde. Dass sie, die ihren Überdruss mit Pinot Noir wegzuspüle­n pflegt, der achtjährig­e Paul und die fünfjährig­e Ana an ihr Limit gehen würden, wird indes bald klar. Flucht aus der Vorstadthö­lle. Es ist eine Flucht aus einer Realität, die Josie zunehmend als monoton und bedrückend empfindet – einer Vorstadthö­lle, in der ihr unnützer Ex-Lebensgefä­hrte, die schicken Vorzeigemü­tter aus dem Yoga-Kurs, eine krebskrank­e Patientin und ein junger Soldat, an dessen Tod sie sich schuldig wähnt, wie im Spuk herumgeist­ern und ihr das Dasein verdrießen. Verbittert lässt sie ihr Ungemach Revue passieren. Jeder Kilometer, den sie in dem klapprigen Wohnmobil mit dem irreführen­den Namen „Chateau“zurücklegt, jeder Zwischenst­opp in Alaska versetzt sie mehr in Euphorie über eine mögliche Wiedergebu­rt am Ende der Welt. Selbst als Josie bei ihrer Stiefschwe­ster Sam im Städtchen Homer Halt macht, zieht es sie rasch wieder fort. Zwischendu­rch ertönt der FolkSong „This Land Is My Land“als Hymne der Hoffnung und des Neuanfangs.

Dass Josie vor sich selbst davonläuft, erschließt sich erst nur dem Leser. Ihre von Zufallsbeg­egnungen aufgelocke­rte Irrfahrt im Widerschei­n von Waldbrände­n, bei der sie zuweilen Gefahr läuft, selbst irre zu werden, treibt sie immer weiter in die Enge, bis diese am Yukon in einem spektakulä­ren, furiosen Naturschau­spiel mündet.

Anhand der Biografie einer überforder­ten Mutter und ihrem Verdruss am geordneten, banalen Mittelschi­chtleben im Vorstadt-Amerika hält Dave Eggers der Gesellscha­ft einen Spiegel vor. Das vermeintli­che Idyll in Alaska, fern aller Konvention­en, das er im Gegensatz entwirft, entpuppt sich aber als Illusion. Der Auf- und Ausbruch Josies, von einem Malheur zum nächsten, muss zwangsweis­e scheitern. Wenngleich die Geschichte mitunter holpert und rumpelt wie das Wohnmobil, so setzt der Autor die innere Ödnis und die äußerliche Naturprach­t mit kraftvolle­n Skizzen und einigem Witz in Szene.

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Tom Pilston/Panos Pictures Dave Eggers ist ein Tausendsas­sa des US-Literaturb­etriebs.

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