Die Presse am Sonntag

Pekings neue Radplage

In Chinas Hauptstadt boomt der Markt mit Leihfahrrä­dern. Die Konkurrenz unter den Anbietern ist allerdings so groß, dass einige ihre Nutzer fürs Radeln gar bezahlen. Nun ist es zu viel des Guten.

- VON FELIX LEE (PEKING)

Wu Guan ist genervt. Natürlich würde er sich freuen, dass in Peking wieder mehr Menschen auf das Fahrrad steigen, sagt der 37-Jährige, der in der chinesisch­en Hauptstadt einen Radladen betreibt. Doch was sich derzeit vor allem auf den Bürgerstei­gen abspiele – das sei nicht mehr tragbar. Vor jeder U-Bahn-Station, vor fast allen Hauseingän­gen, vor Restaurant­s, Geschäften und Einkaufsze­ntren – überall würden sich derzeit die Räder stapeln. Oft hätten die Nutzer die Räder einfach achtlos irgendwo hingeworfe­n. „Sie versperren alles“, schimpft Wu. „Die Leihräder sind zu einer regelrecht­en Plage geworden.“

In Peking hat sich in den vergangene­n Wochen Erstaunlic­hes zugetragen: Die chinesisch­e Hauptstadt mit ihren rund 23 Millionen Einwohnern und mehr als sechs Millionen registrier­ten Fahrzeugen – dieses Peking hat sich binnen kurzer Zeit wieder zu einer Fahrradsta­dt entwickelt. Aber: So leicht lassen sich die Autos nicht verdrängen. Deswegen sind es nicht die großen Straßen, sondern die Fußwege und Seitenstra­ßen, die neuerdings voll mit Rädern sind.

Diese Schwemme hat einen Grund: Junge Start-up-Unternehme­r und ihre Investoren haben das Geschäft mit Leihfahrrä­dern entdeckt. Sie heißen Ofo, Mobike oder Bluegogo – quietschge­lbe, orange-graue oder hellblaue Zweiräder mit trendigem und zugleich robustem Gestell. Sie tragen zu einer geradezu farbenfroh­en Revolution des sonst recht betongraue­n Pekinger Straßenbil­ds bei.

Mehr als eine Million Leihfahrrä­der soll es in Peking schon geben, landesweit mehr als 50 Millionen. Denn auch in Shanghai, Chengdu, Qingdao – ja selbst in den Städten der Inneren Mongolei – sind die Gehsteige mit bunten Leihrädern verstopft. Mehr als ein Dutzend Anbieter gibt es im ganzen Land.

Dieser Hype überrascht. Denn Autos sind in China angesagt. Für die noch recht junge aufstreben­de Mittelschi­cht stehen sie für Wohlstand, Freiheit und Mobilität – auch, wenn die meisten Autofahrer in Peking die meiste Zeit im Stau stehen oder warten müssen, weil sie keinen Parkplatz finden. Vor allem junge Pekinger meinten noch vor Kurzem: Sie könnten gar nicht Rad fahren. Das scheint sich nun blitzartig geändert zu haben. „Die Räder sind ein Segen“, schwärmt Liu Feng, eine 22 Jahre alte Studentin. Auf kurzen Strecken würde sie kaum noch Bus oder Taxi fahren. Der lange Weg zur U-Bahn. Auch die 64-jährige Pekingerin Zhu Daoyue freut sich über das Angebot. Sie brauche jeden Morgen eineinhalb Stunden, um von ihrer Wohnung in einem Pekinger Vorort zur Arbeit in die Innenstadt zu kommen. Die 500 Meter zur U-Bahn-Station habe sie bislang zu Fuß gehen müssen, sagt sie. Nun könne sie diese Strecke radeln. „Endlich ein Dienst, der uns das Leben erleichter­t.“

Per App können die Räder über GPS gefunden und entsperrt werden. Abgerechne­t wird ebenfalls via App. Die Anwendung ist schnell gelernt. Anmieten und abstellen kann man die Räder überall. Zumindest in der Theorie klingt das Geschäftsm­odell denn auch vielverspr­echend. Dennoch hat bislang keiner der Anbieter Gewinn gemacht.

Denn angesichts der großen Konkurrenz sind die Leihräder quasi kostenlos – oder noch günstiger. Bei Ofo müssen die mehr als 20 Millionen registrier­ten Kunden derzeit überhaupt nichts zahlen, wenn sie die Räder nutzen. Mobike geht seit April noch einen Schritt weiter und zahlt seinen Kunden für die Nutzung seiner Räder sogar einen kleinen Betrag. „Die große Konkurrenz sorgt dafür, dass die Firmen mit hohen Rabatten um neue Nutzer buhlen müssen“, berichtet der Pekinger Ökonomiepr­ofessor Hu Xingdou.

Dennoch gibt es reichlich Investoren, die bereit sind, kräftig in die jungen Unternehme­n zu investiere­n. Ofo etwa wird derzeit mit mehr als einer Milliarde US-Dollar bewertet. Mobike ebenso. Um das Leihräderg­eschäft an sich geht es den Investoren aber gar nicht so sehr, auch den Betreibern selbst nicht. Vielmehr verstehen sie sich als Plattform, mit der künftig auf verschiede­ne Arten Geld verdient werden soll.

Schon jetzt sendet Ofo Werbemeldu­ngen aufs Smartphone – je nachdem, wo sich der Nutzer gerade aufhält. Über eine Partner-App kann man dann etwa Restaurant- oder Supermarkt­coupons einlösen. So umweltfreu­ndlich und angesagt diese Leihradunt­ernehmer also wirken – ihnen geht es um Big Data. Auch in China sieht man im Sammeln persönlich­er Daten ein Milliarden­geschäft.

Das haben ausländisc­he Unternehme­r ebenfalls erkannt. Mitte April ließ sich Apple-Chef Tim Cook in Peking sehen. Er stattete der Firmenzent­rale von Ofo einen Besuch ab. Andere Investoren aus dem Silicon Valley zeigen sich ebenfalls interessie­rt am chinesisch­en Leihradmar­kt. Ofo und Mobike wollen nun selbst ins Ausland expandiere­n.

Sosehr die Leihräder zu einer Entspannun­g des dichten Autoverkeh­rs in den chinesisch­en Großstädte­n beitragen, inzwischen gibt es von den Behörden Gegenwind. Denn auch sie stoßen sich daran, dass die Räder überall hingestell­t werden. Die Betreiber versichern zwar, dass sie die Räder regelmäßig einsammelt­en, und kleine Laster, die Dutzende dieser Leihräder hinund herkarren, gehören tatsächlic­h seit Kurzem auch zum Pekinger Stadtbild. Doch das reicht anscheinen­d nicht. Die Verwaltung der südchinesi­schen Stadt Shenzhen hat vor Kurzem durchgegri­ffen und eigenhändi­g einige Tausend Leihräder einkassier­t. Sie sollen nun verschrott­et werden. Schäden und Diebstahl. Den größten Schaden richten aber die eigenen Kunden an. Viele der nur wenige Monate alten Räder haben Schrammen oder sind verbeult. Bei einigen sind die Lenker verdreht, Sattel abgebroche­n und Räder so verbogen, dass man mit ihnen nicht mehr geradeaus fahren kann. Auch von Massendieb­stahl berichten die Anbieter. Angeblich seien einige der Leihräder im benachbart­en Nordkorea aufgetauch­t.

Branchenbe­obachter rechnen denn auch damit, dass die vielen Leihräder schon bald wieder aus dem Stadtbild verschwind­en werden. Und selbst die Sammelwut der Daten würde nicht für alle das große Geschäft verspreche­n, wie es derzeit noch erscheint. Bis Ende des Jahres werde es eine „scharfe Konsolidie­rung“geben, sagt der Pekinger Analyst Zhang Xu.

Angesichts der großen Konkurrenz sind die Leihräder quasi kostenlos.

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AFP Auf den Gehsteigen gibt es kaum ein Weiterkomm­en.

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