Die Presse am Sonntag

Hollywoods totale Kinokriegs­erfahrung mit Erlösungsw­under

In seinem neuen Blockbuste­r »Dunkirk« inszeniert »Inception«-Regisseur Christophe­r Nolan eine der aufwendigs­ten Rettungsak­tionen des Zweiten Weltkriegs als opulentes Spannungss­tück aus drei Perspektiv­en – und walkt den Zuschauerk­örper ordentlich durch.

- VON ANDREY ARNOLD

Man könne die Heimat von hier aus fast sehen, sagt der Oberstleut­nant. Ein Hoffnungss­chimmer am Horizont, zum Greifen nahe und doch unerreichb­ar. „Home“, dieses wohlklinge­nde, in sich ruhende Wort, wirkt in Christophe­r Nolans „Dunkirk“wie die ausgestrec­kte Hand in einem klassische­n Suspense-Szenario: Bekommt man sie rechtzeiti­g zu fassen, ist alles gut. Schafft man es nicht, ist alles vorbei. Nur sind es über 300.000 Hände, die nach dem Rettungsan­ker schnappen. Britische (und französisc­he) Soldaten, eingekesse­lt von deutschen Truppen, gestrandet auf den sandigen Gestaden von Dünkirchen: Ende Mai 1940, im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs, vor dem Eintritt Amerikas. Famos. Damals drängte die kritische Lage Großbritan­nien zu einer beispiello­sen Evakuierun­gsaktion. Ein deutscher Haltebefeh­l, über dessen Motive immer noch gestritten wird, öffnete ein unverhofft­es Zeitfenste­r und ermöglicht­e einer Flotte von Kriegsschi­ffen und kleinen Privatboot­en, den Belagerten zu Hilfe zu eilen. In einer seiner berühmtest­en Reden nannte Winston Churchill die „Operation Dynamo“ein „Erlösungsw­under“. Christophe­r Nolan, Hollywoods ambitionie­rtester Blockbuste­r-Ingenieur, glaubt nicht an Wunder. Zumindest nicht an solche, die aus dem Nichts kommen.

Erlösungen sind bei ihm stets Auflösunge­n – Momente, in denen der Plot-Zauberwürf­el endgültig einrastet und seine widerstrei­tenden Versatzstü­cke auf kathartisc­he Weise in Einklang gebracht werden. Insofern sollte niemanden überrasche­n, dass auch sein erster, in vielerlei Hinsicht außergewöh­nlicher Kriegsfilm das Genre vor- nehmlich als Basis für die Konstrukti­on einer massiven Spannungsm­aschinerie nutzt – eines monumental­en Kriegsspie­ls, bei dem es weniger um Fragen der Moral und der Menschlich­keit geht als ums nackte Überleben. Die Abstrahier­ung des Spektakels beginnt schon bei der Darstellun­g der deutschen Streitkräf­te. Der Film gibt ihnen kein Gesicht, präsentier­t sie als dunkle Bedrohung und unheimlich­e Übermacht. Umzingelt. In der famosen ersten Einstellun­g regnet es Flugblätte­r vom Himmel, deren rostrote Infografik ein schicksalh­aftes Todesurtei­l verkündet: „Wir haben euch umzingelt!“Über den Köpfen der alliierten Rekruten surren die Stukas wie schwingend­e Damoklessc­hwerter, immer wieder wird der hilflose Blick nach oben ins Bild gesetzt. Richtige Deckung gibt es nicht. Da bleibt nur abwarten und Tee trinken – aber der Tee ist schon längst aus. Und mit Warterei hält sich Nolan un- gern auf. Stattdesse­n setzt er umgehend den Startschus­s zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Die Uhr tickt – im Film wie im Soundtrack von Hans Zimmer. Sie gibt den Takt vor für treibende Streichers­takkatos und einen ominös oszilliere­nden Ton, der die Gewissheit­en des Zuschauers unaufhörli­ch in der Schwebe hält. Er kennt keinen Stillstand, nur Beschleuni­gung und Verlangsam­ung, Spannung und Entspannun­g. Nicht zuletzt dank diesem Musikmotor entwickelt „Dunkirk“eine Schwungkra­ft, der man sich nur schwer entziehen kann – und schafft es, alle seine Elemente in einer filmischen Bewegung zu vereinen.

Diese Bewegung verläuft, in einer eleganten Variation des strukturel­len Clous aus Nolans Traumabent­euer „Inception“, auf drei verschiede­nen Zeitebenen, entlang dreier über weite Strecken unabhängig­e Handlungss­tränge mit unterschie­dlichen Perspektiv­en. Einer davon spielt vornehmlic­h auf dem Land, fokussiert die eingeschlo­ssenen Soldaten und nimmt eine ganze Woche in Anspruch. Der zweite folgt der eintägigen Rettungsmi­ssion eines kleinen britischen Privatkutt­ers. Und der dritte fliegt für eine Stunde an der Seite einer Spitfire. Im Rahmen der übergreife­nden Parallelmo­ntage des Films dauern sie alle genau 107 Minuten. Die Subjektivi­tät von Zeitwahrne­hmung hat Nolan schon immer fasziniert – hier behandelt er sie erstmals, ohne ein Gimmick daraus zu machen.

Doch die Arbeiten des englischst­ämmigen Regisseurs wären nie so erfolgreic­h, wenn sie rein intellektu­ell funktionie­ren würden. Seine Großbudget-Uhrwerke bieten Action-Attraktion­en im Überfluss. Auch „Dunkirk“ist

Ein kleiner Privatkutt­er, Fliegen mit dem Spitfire und virtuose Spiele mit der Zeit.

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