Hollywoods totale Kinokriegserfahrung mit Erlösungswunder
In seinem neuen Blockbuster »Dunkirk« inszeniert »Inception«-Regisseur Christopher Nolan eine der aufwendigsten Rettungsaktionen des Zweiten Weltkriegs als opulentes Spannungsstück aus drei Perspektiven – und walkt den Zuschauerkörper ordentlich durch.
Man könne die Heimat von hier aus fast sehen, sagt der Oberstleutnant. Ein Hoffnungsschimmer am Horizont, zum Greifen nahe und doch unerreichbar. „Home“, dieses wohlklingende, in sich ruhende Wort, wirkt in Christopher Nolans „Dunkirk“wie die ausgestreckte Hand in einem klassischen Suspense-Szenario: Bekommt man sie rechtzeitig zu fassen, ist alles gut. Schafft man es nicht, ist alles vorbei. Nur sind es über 300.000 Hände, die nach dem Rettungsanker schnappen. Britische (und französische) Soldaten, eingekesselt von deutschen Truppen, gestrandet auf den sandigen Gestaden von Dünkirchen: Ende Mai 1940, im ersten Jahr des Zweiten Weltkriegs, vor dem Eintritt Amerikas. Famos. Damals drängte die kritische Lage Großbritannien zu einer beispiellosen Evakuierungsaktion. Ein deutscher Haltebefehl, über dessen Motive immer noch gestritten wird, öffnete ein unverhofftes Zeitfenster und ermöglichte einer Flotte von Kriegsschiffen und kleinen Privatbooten, den Belagerten zu Hilfe zu eilen. In einer seiner berühmtesten Reden nannte Winston Churchill die „Operation Dynamo“ein „Erlösungswunder“. Christopher Nolan, Hollywoods ambitioniertester Blockbuster-Ingenieur, glaubt nicht an Wunder. Zumindest nicht an solche, die aus dem Nichts kommen.
Erlösungen sind bei ihm stets Auflösungen – Momente, in denen der Plot-Zauberwürfel endgültig einrastet und seine widerstreitenden Versatzstücke auf kathartische Weise in Einklang gebracht werden. Insofern sollte niemanden überraschen, dass auch sein erster, in vielerlei Hinsicht außergewöhnlicher Kriegsfilm das Genre vor- nehmlich als Basis für die Konstruktion einer massiven Spannungsmaschinerie nutzt – eines monumentalen Kriegsspiels, bei dem es weniger um Fragen der Moral und der Menschlichkeit geht als ums nackte Überleben. Die Abstrahierung des Spektakels beginnt schon bei der Darstellung der deutschen Streitkräfte. Der Film gibt ihnen kein Gesicht, präsentiert sie als dunkle Bedrohung und unheimliche Übermacht. Umzingelt. In der famosen ersten Einstellung regnet es Flugblätter vom Himmel, deren rostrote Infografik ein schicksalhaftes Todesurteil verkündet: „Wir haben euch umzingelt!“Über den Köpfen der alliierten Rekruten surren die Stukas wie schwingende Damoklesschwerter, immer wieder wird der hilflose Blick nach oben ins Bild gesetzt. Richtige Deckung gibt es nicht. Da bleibt nur abwarten und Tee trinken – aber der Tee ist schon längst aus. Und mit Warterei hält sich Nolan un- gern auf. Stattdessen setzt er umgehend den Startschuss zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Die Uhr tickt – im Film wie im Soundtrack von Hans Zimmer. Sie gibt den Takt vor für treibende Streicherstakkatos und einen ominös oszillierenden Ton, der die Gewissheiten des Zuschauers unaufhörlich in der Schwebe hält. Er kennt keinen Stillstand, nur Beschleunigung und Verlangsamung, Spannung und Entspannung. Nicht zuletzt dank diesem Musikmotor entwickelt „Dunkirk“eine Schwungkraft, der man sich nur schwer entziehen kann – und schafft es, alle seine Elemente in einer filmischen Bewegung zu vereinen.
Diese Bewegung verläuft, in einer eleganten Variation des strukturellen Clous aus Nolans Traumabenteuer „Inception“, auf drei verschiedenen Zeitebenen, entlang dreier über weite Strecken unabhängige Handlungsstränge mit unterschiedlichen Perspektiven. Einer davon spielt vornehmlich auf dem Land, fokussiert die eingeschlossenen Soldaten und nimmt eine ganze Woche in Anspruch. Der zweite folgt der eintägigen Rettungsmission eines kleinen britischen Privatkutters. Und der dritte fliegt für eine Stunde an der Seite einer Spitfire. Im Rahmen der übergreifenden Parallelmontage des Films dauern sie alle genau 107 Minuten. Die Subjektivität von Zeitwahrnehmung hat Nolan schon immer fasziniert – hier behandelt er sie erstmals, ohne ein Gimmick daraus zu machen.
Doch die Arbeiten des englischstämmigen Regisseurs wären nie so erfolgreich, wenn sie rein intellektuell funktionieren würden. Seine Großbudget-Uhrwerke bieten Action-Attraktionen im Überfluss. Auch „Dunkirk“ist
Ein kleiner Privatkutter, Fliegen mit dem Spitfire und virtuose Spiele mit der Zeit.