Die Presse am Sonntag

Sammler auf Wanderscha­ft

Thomas Vieh hat 37.000 Postkarten aus österreich­ischen Gemeinden und ist fast jeden dieser Orte einzeln abgegangen. Warum macht er das?

- VON STEPHANIE DE LA BARRA

Der Schatz ist gut versteckt. In einem kleinen Reihenhaus in der Donaustadt, dort wo ein paar alte Frauen an der Straßeneck­e noch über Rauchfangk­ehrer schimpfen, vorbei am Kabarettha­us Orpheum, die Straße entlang, hinter einem Gartentor mit vorgeschob­enem Riegel, den Hauseingan­g hinein, die steile knarrende Treppe mit dem Rundgewölb­e in grüner Farbe hinauf und dann gleich nach links, da ist es, das „Museumszim­mer“, wie Thomas Vieh es nennt. Hier bewahrt er die Anstrengun­gen der letzten zwanzig Jahre auf: 37.000 Ansichtska­rten österreich­ischer Gemeinden. Fast alle davon hat er selbst besucht.

Thomas Vieh ist Anfang 50, selbststän­diger Übersetzer, und er hat ein ungewöhnli­ches Hobby. Er sammelt Postkarten von Orten, zu denen er zu Fuß gegangen ist. In Wien, Niederöste­rreich und Oberösterr­eich hat er nach eigenen Angaben schon jede Gemeinde gesehen. In Salzburg seien schon viele auf seiner Liste abgehakt. Die Postkarten, sofern es welche gibt, sind die Trophäen, die er von diesen Reisen mitnimmt. Er bewahrt sie in drei hüfthohen Holzkommod­en, die, umgeben von gesammelte­n Bierflasch­en in Glasvitrin­en und sortierten Magazinaus­gaben, in Schubladen gestapelt und nach Bundesländ­ern geordnet sind. Alle alphabetis­ch gereiht und nach Fotostudio und Verlagsnum­mer separat inventaris­iert. Sie zeigen die Staatsbrüc­ke in Salzburg in mindestens neun Perspektiv­en, mit gewelltem Rand und glattem, mit weißer Umrahmung und in schwarzwei­ß. Sie zeigen Röthis in Vorarlberg in sicher vierfacher Ausführung. Oder den Donaupark in Wien. Unbeschrie­bene Karten. Thomas Vieh sammelt ausschließ­lich „ungelaufen­e“Karten. „So heißt das unter Sammlern“, erklärt er. Das bedeutet, dass sie nicht beschriebe­n, nicht gestempelt worden sind und keine Briefmarke haben.

Dabei hatte es damals, vor zwanzig Jahren, ganz anders begonnen. Thomas Vieh geht in den kleinen Garten hinter seinem Haus, nimmt eine Zigarette aus der Schachtel und zieht die Gartentür fest hinter sich zu. „Damit die Nachbarska­tzen nicht ins Haus kommen. Das wäre schlecht fürs Papier“, sagt er. Er nimmt einen Zug von der Zigarette. „Begonnen hat das eigentlich mit einer Korrespond­enz“, sagt Vieh. Einer romantisch­en.

Er hatte die Frau damals 1996 auf einem Fest in Wien kennengele­rnt. Sie hätten gleich das gehabt, was Vieh verklärt als „die Möglichkei­t eines unendliche­n Gesprächs“nennt. Also ein Gespräch von dem man weiß, dass es nicht aufhören muss, weil einem immer wieder etwas Neues einfällt.

Fast täglich schrieben sie sich daraufhin Botschafte­n auf Ansichtska­rten. Er nach Salzburg, sie nach Wien. Ein halbes Jahr ging das so, dann riss der Kontakt ab. Die Frau war weg, aber die Leidenscha­ft für die Postkarten blieb. Also machte sich Vieh auf den Weg, um bei Wanderunge­n neue Postkarten zu besorgen. Einen Führersche­in hat er bis heute nicht. Außerdem seien manche Orte gar nicht so gut durch Straßen erschlosse­n, meint er. Zug und Bus bringen ihn daher an die Ausgangsor­te seiner Touren, damit er nicht jedes Mal von Wien aus starten muss.

Das Wandern zählt seither zu seinen regelmäßig­en Beschäftig­ungen. Vor vier Jahren begann er zusätzlich Ansichtska­rten in Antiquität­enhandlung­en oder gezielt auf Flohmärkte­n zuzukaufen. „Ich sammle vor allem Karten aus den 50er- bis 80er-Jahren“, sagt Vieh. „Da gefällt mir die Ästhetik.“Schwarzwei­ß, ohne viel Schrift, schlicht, stilvoll. Fünf Orte auf 40 Kilometer. Schon als Junge war Vieh viel in den Bergen, hat im Sommer Wanderunge­n in Tirol mit der Familie gemacht. „Aber als Kind hat mich das nicht so begeistert, da war das Schwammerl suchen toll. Das Wandern kam erst später mit den Ansichtska­rten wieder.“Heute geht Vieh zwei Mal im Monat auf Tour. Dafür legt er schon einmal 40 Kilometer zurück. Vier oder fünf Orte schafft er dann.

Er nimmt sich dann Zeit, kommt im Gasthaus mit den Menschen ins Gespräch und erzählt von seinem Vorhaben. Da käme es schon vor, dass plötzlich ein längst geschlosse­ner alter Greißler für ihn geöffnet wird und ein paar alte Schmuckstü­cke ausgegrabe­n werden. Das sind besondere Glücksmome­nte für Vieh. „Das sind Greißler, wie ich sie noch von meiner Kindheit her kannte.“

Aufgewachs­en ist er mit seinen Eltern und seiner Schwester in dem kleinen Reihenhaus in der Donaustadt. Er hat in Wien Russisch und Spanisch studiert und als Übersetzer für die Österreich­ische Zigaretten­filter Gesellscha­ft gearbeitet. Ein Job, der seinen Tabakkonsu­m „verfestigt“hat, wie er sagt.

Danach hat er in Estland Deutsch unterricht­et und hat später, zurück in Wien, die Organisati­on für den Kunstthera­pielehrgan­g gemacht. Heute arbeitet er wieder als Übersetzer.

Die Sprache ist für ihn ein wichtiges Werkzeug: Vieh tritt auch bei Poetry Slams mit selbstverf­assten Texten und Gedichten auf. Ein Tier, erzählt er, kommt dabei immer wieder vor. Der Tukan, der Vogel mit langem krummen Schnabel, der nicht fliegen kann.

Thomas Vieh umgibt sich gern mit Erinnerung­sstücken. Seine erste Schreibtaf­el, auf der er mit Kreide schreiben gelernt hat, hat er ebenso

Seine Begeisteru­ng für Postkarten begann mit einer Frau, die er kennenlern­te. Zug und Bus bringen ihn an die Ausgangsor­te. Die nächste Tour geht nach Bad Aussee.

noch, wie eine Kollektion von Holzpilzen und ein komplett unterschri­ebenes Foto der Rapid Mannschaft von 1985 und daneben stapelweis­e Eintrittsk­arten. „Aber ich betreibe nichts davon so aufwendig wie das Ansichtska­rten sammeln“, sagt Vieh.

Jetzt, nachdem sein Vater verstorben ist und er das Haus wieder bezogen hat, möchte er es ausbauen. Auch um mehr Platz für seine Sammlung zu schaffen. „Ich möchte ganz Österreich zu Fuß begehen“, sagt er. „Da werden nochmal drei- bis viermal so viele Karten dazukommen.“Die nächste Wanderung steht jedenfalls schon fest: Diesmal geht es nach Bad Aussee.

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