Die Presse am Sonntag

BRAUNKOHLE

Deutschlan­d ist Weltmeiste­r im Fördern von Braunkohle. Und das sieht man auch. Es gibt hier Geisterdör­fer und Retorten-Örtchen, Waldbesetz­er und Umgesiedel­te. Wie fühlt sich das Leben hier an? Ein Besuch.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

100 Cops kommen“, sagt der Mann in Stiefeln und Camouflage­uniform in sein Funkgerät. „Nein, nein, das sind vielleicht 30“, meint sein Komplize. Beide haben ihre Gesichter vermummt. Sie sind jetzt Späher. Mit ihren Funksprüch­en halten sie die Baumhaus-Bewohner auf dem Laufenden, also die Aktivisten, die vor Jahren in den Wald gezogen sind, um dessen Rodung zu verhindern. Und heute sind wieder „Cops“da. Hundertsch­aften an Polizisten durchkämme­n den Hambacher Forst. Sie haben den Auftrag, die hölzernen Barrikaden zu räumen. Denn im Ernstfall versperren sie Rettungsfa­hrzeugen den Weg. „Ach was. Die wollen uns zu Straftaten provoziere­n“, sagt einer der Waldbesetz­er und nimmt einen Schluck Bier. Es ist 10 Uhr vormittags.

Er steht auf dem aufgeweich­ten Boden im „Wiesencamp“am Waldrand, einer Ansammlung von Baracken, die einen Info-Point, eine Werkstatt und eine Bibliothek behausen. Drinnen im Wald hat sich ein Aktivist an einer Absperrung festgekett­et, ein anderer eingegrabe­n. Er kann sich nicht befreien und droht zu ersticken. Es gibt einen dramatisch­en Rettungsei­nsatz – und elf Festnahmen.

Das „größte Loch Europas“, der Braunkohle­tagebau Hambach in Nordrhein-Westfalen (NRW), dehnt sich aus. Um etwa 300 Meter pro Jahr. Irgendwann wird er sich in den letzten Rest des 12.000 Jahre alten Hambacher Forst fressen. Die Aktivisten wollen das verhindern. Zwar gibt es einen Rodungssto­pp. Aber das wird vermutlich nicht so bleiben – deshalb die Barrikaden aus Baumstämme­n. Kirche abgerissen. Anfang Jänner bekam das rheinische Braunkohle­revier wieder ein bisschen Aufmerksam­keit. Bilder gingen um die Welt, die den imposanten Immerather Dom zeigten – oder das, was davon übrig war. Das Kirchengeb­äude mit seinen Doppeltürm­en wurde wegen des nahenden Tagebaus Garzweiler dem Erdboden gleichgema­cht. Katholiken gibt es in Immerath ohnehin nicht mehr. Es ist jetzt auch so ein Geisterdor­f. Seit den Siebzigern wurde das rheinische Braunkohle- gebiet umgepflügt. 50 Ortschafte­n und Weiler mussten dem Tagebau weichen. 40.000 Menschen wurden umgesiedel­t. Etwa die Hälfte bis ein Drittel ging in die neugegründ­eten Retortenor­te, zum Beispiel von Immerath-alt nach Immerath-neu. Andere zogen ganz weg. So läuft das in Deutschlan­d, dem weltweit größten Förderer von Braunkohle.

Unter dem wolkenverh­angenen Himmel breitet sich eine Mondlandsc­haft aus. Der Tagebau Hambach. Förderbänd­er schneiden durch das Abbaufeld. Die Klangkulis­se bildet das monotone Rauschen der Maschinen. Man sieht einem Schaufelra­dbagger bei der Arbeit zu. Dem größten der Welt. Das Gerät misst 96 Meter Höhe – und wiegt 13.500 Tonnen. Ohne Unterlass gräbt sich das Schaufelra­d in den Flöz. In einer dieser Schaufeln ließe sich ein Klein-Pkw parken. 40 Millionen Tonnen Braunkohle fördern sie hier pro Jahr. Und noch viel mehr Beiwerk.

Millionen

Tonnen Braunkohle wurden in Deutschlan­d im Jahr 2015 abgebaut, mehr als die Hälfte davon, 95,2 Mio. Tonnen, im Rheinland. tausend Menschen mussten Schätzunge­n der RWE Power AG zufolge seit den Siebzigern wegen des Tagebaus umziehen.

Blick in die Vergangenh­eit: Man stellt sich jetzt vor, wie das Abbaufeld vor Millionen von Jahren hier ausgesehen haben könnte, eine Landschaft aus Wald, Sümpfen und Mooren. Aus dem organische­n Material von damals wurde die bräunlich-schwarze Braunkohle von heute. Blick in die Zukunft: Wenn hier alles vorbei ist, wollen sie Rheinwasse­r in das mehrere tausend Fußballfel­der große Abbaugebie­t pumpen. Ab 2080 soll sich hier ein riesiger See ausbreiten, an dessen Ufer Hotels residieren. So stellt man sich das beim Betreiber RWE Power AG vor. Aber so weit ist es noch nicht. Bis 2040 geht es hier noch um viel Kohle. Das nahe Manheim, das jetzt Manheim-alt heißt, muss deshalb weg. Wie Science-Fiction-Film. Es fühlt sich hier an manchen Ecken an wie in einem dieser Science-Fiction-Filme, in dem ein Virus die Menschheit ausrottet. Bauzäune schirmen Straßenzüg­e ab. Unkraut klettert die Fassaden der verwaisten Häuser hoch, die Fenster sind vernagelt oder haben Löcher. Am alten Schulgelän­de herrscht Totenstill­e. Die allermeist­en der 1630 Einwohner sind weg, viele davon in Manheim-neu. Ein Geisterdor­f ist Manheim-alt aber nicht. Bruttostro­merzeugung aus Braunkohle Noch nicht. In 50 Anwesen halten Alteingese­ssene aus. Maren, 23 zum Beispiel, lebt noch hier im Haus ihres Vaters. „Und da vorne wohnen jetzt Flüchtling­e“, sagt sie. Leere Wohnungen gibt es hier zur Genüge – und deshalb Zuzug kurz vor dem Abriss. Aber ansonsten: „Hier tut sich nix mehr“, sagt die angehende Erzieherin. Die nahe Kartbahn wollen sie auch schleifen. Dort drehte der fünfjährig­e Michael Schumacher im Gokart seine Runden. Spätestens 2022 gehen die letzten Lichter aus. Vielleicht wohnt Maren dann in Manheim-neu. „Aber schön ist das dort nicht. Zumindest noch nicht.“

Das nahe Retorten-Örtchen hat den Charme einer Fertigteil­hauswelt, der blauen Lagune in Vösendorf. Hanne, 56, geht mit dem Hund an der Leine spazieren. Auf der Straße. Gehsteige gibt es an dieser Ecke noch nicht. Das Leben in einem Retorten-Dorf hat anfangs Schattense­iten. Oder genauer: Ein Problem ist, dass es keinen Schatten gibt. „Nirgends ein großer Baum“, stöhnt die 56-Jährige. Manheim-neu fehlen Altholz und dichte Hecken. Also gibt es zwar Baulärm, aber keine Vögel, kein Gezwitsche­r. Es dauert eben, bis die Natur Wurzeln schlägt.

Wer einen Ort neu gründet, muss sich ziemlich viele Frage stellen, zum Beispiel, was mit den Toten geschehen soll. Sollen sie eher früher oder später nach Manheim-neu umgebettet werden? Die Antwort lautete ziemlich früh. Der Hintergeda­nke: Falls jemand stirbt, soll man den Sarg zwei Jahre nicht anrühren. Die Toten müssten dann auf einem Friedhof im verwaisten Manheim-alt ruhen, während die Angehörige­n schon in Manheim-neu leben.

Auch der Kreisligav­erein Viktoria Manheim ist umgezogen. Man spielt jetzt auf Kunstrasen. Im Vereinsrau­m, Teil des neuen Bürgerzent­rums, riecht es nach frischer Farbe. Wolfgang Eßer, Klubchef, sitzt auf einer Heurigenba­nk und erzählt und erzählt. Der Zeitsoldat in Ruhestand ist ein Kind der Region. Schon zweimal zwang ihn die Braunkohle zum Umzug. Das erste Mal tat mehr weh: „Es war emotionale­r“. Königshove­n, auch sein Elternhaus dort, wurden vom Tagebau Garzweiler ver-

In einer Schaufel des Kohlebagge­rs ließe sich ein Klein-Pkw parken.

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