BRAUNKOHLE
Deutschland ist Weltmeister im Fördern von Braunkohle. Und das sieht man auch. Es gibt hier Geisterdörfer und Retorten-Örtchen, Waldbesetzer und Umgesiedelte. Wie fühlt sich das Leben hier an? Ein Besuch.
100 Cops kommen“, sagt der Mann in Stiefeln und Camouflageuniform in sein Funkgerät. „Nein, nein, das sind vielleicht 30“, meint sein Komplize. Beide haben ihre Gesichter vermummt. Sie sind jetzt Späher. Mit ihren Funksprüchen halten sie die Baumhaus-Bewohner auf dem Laufenden, also die Aktivisten, die vor Jahren in den Wald gezogen sind, um dessen Rodung zu verhindern. Und heute sind wieder „Cops“da. Hundertschaften an Polizisten durchkämmen den Hambacher Forst. Sie haben den Auftrag, die hölzernen Barrikaden zu räumen. Denn im Ernstfall versperren sie Rettungsfahrzeugen den Weg. „Ach was. Die wollen uns zu Straftaten provozieren“, sagt einer der Waldbesetzer und nimmt einen Schluck Bier. Es ist 10 Uhr vormittags.
Er steht auf dem aufgeweichten Boden im „Wiesencamp“am Waldrand, einer Ansammlung von Baracken, die einen Info-Point, eine Werkstatt und eine Bibliothek behausen. Drinnen im Wald hat sich ein Aktivist an einer Absperrung festgekettet, ein anderer eingegraben. Er kann sich nicht befreien und droht zu ersticken. Es gibt einen dramatischen Rettungseinsatz – und elf Festnahmen.
Das „größte Loch Europas“, der Braunkohletagebau Hambach in Nordrhein-Westfalen (NRW), dehnt sich aus. Um etwa 300 Meter pro Jahr. Irgendwann wird er sich in den letzten Rest des 12.000 Jahre alten Hambacher Forst fressen. Die Aktivisten wollen das verhindern. Zwar gibt es einen Rodungsstopp. Aber das wird vermutlich nicht so bleiben – deshalb die Barrikaden aus Baumstämmen. Kirche abgerissen. Anfang Jänner bekam das rheinische Braunkohlerevier wieder ein bisschen Aufmerksamkeit. Bilder gingen um die Welt, die den imposanten Immerather Dom zeigten – oder das, was davon übrig war. Das Kirchengebäude mit seinen Doppeltürmen wurde wegen des nahenden Tagebaus Garzweiler dem Erdboden gleichgemacht. Katholiken gibt es in Immerath ohnehin nicht mehr. Es ist jetzt auch so ein Geisterdorf. Seit den Siebzigern wurde das rheinische Braunkohle- gebiet umgepflügt. 50 Ortschaften und Weiler mussten dem Tagebau weichen. 40.000 Menschen wurden umgesiedelt. Etwa die Hälfte bis ein Drittel ging in die neugegründeten Retortenorte, zum Beispiel von Immerath-alt nach Immerath-neu. Andere zogen ganz weg. So läuft das in Deutschland, dem weltweit größten Förderer von Braunkohle.
Unter dem wolkenverhangenen Himmel breitet sich eine Mondlandschaft aus. Der Tagebau Hambach. Förderbänder schneiden durch das Abbaufeld. Die Klangkulisse bildet das monotone Rauschen der Maschinen. Man sieht einem Schaufelradbagger bei der Arbeit zu. Dem größten der Welt. Das Gerät misst 96 Meter Höhe – und wiegt 13.500 Tonnen. Ohne Unterlass gräbt sich das Schaufelrad in den Flöz. In einer dieser Schaufeln ließe sich ein Klein-Pkw parken. 40 Millionen Tonnen Braunkohle fördern sie hier pro Jahr. Und noch viel mehr Beiwerk.
Millionen
Tonnen Braunkohle wurden in Deutschland im Jahr 2015 abgebaut, mehr als die Hälfte davon, 95,2 Mio. Tonnen, im Rheinland. tausend Menschen mussten Schätzungen der RWE Power AG zufolge seit den Siebzigern wegen des Tagebaus umziehen.
Blick in die Vergangenheit: Man stellt sich jetzt vor, wie das Abbaufeld vor Millionen von Jahren hier ausgesehen haben könnte, eine Landschaft aus Wald, Sümpfen und Mooren. Aus dem organischen Material von damals wurde die bräunlich-schwarze Braunkohle von heute. Blick in die Zukunft: Wenn hier alles vorbei ist, wollen sie Rheinwasser in das mehrere tausend Fußballfelder große Abbaugebiet pumpen. Ab 2080 soll sich hier ein riesiger See ausbreiten, an dessen Ufer Hotels residieren. So stellt man sich das beim Betreiber RWE Power AG vor. Aber so weit ist es noch nicht. Bis 2040 geht es hier noch um viel Kohle. Das nahe Manheim, das jetzt Manheim-alt heißt, muss deshalb weg. Wie Science-Fiction-Film. Es fühlt sich hier an manchen Ecken an wie in einem dieser Science-Fiction-Filme, in dem ein Virus die Menschheit ausrottet. Bauzäune schirmen Straßenzüge ab. Unkraut klettert die Fassaden der verwaisten Häuser hoch, die Fenster sind vernagelt oder haben Löcher. Am alten Schulgelände herrscht Totenstille. Die allermeisten der 1630 Einwohner sind weg, viele davon in Manheim-neu. Ein Geisterdorf ist Manheim-alt aber nicht. Bruttostromerzeugung aus Braunkohle Noch nicht. In 50 Anwesen halten Alteingesessene aus. Maren, 23 zum Beispiel, lebt noch hier im Haus ihres Vaters. „Und da vorne wohnen jetzt Flüchtlinge“, sagt sie. Leere Wohnungen gibt es hier zur Genüge – und deshalb Zuzug kurz vor dem Abriss. Aber ansonsten: „Hier tut sich nix mehr“, sagt die angehende Erzieherin. Die nahe Kartbahn wollen sie auch schleifen. Dort drehte der fünfjährige Michael Schumacher im Gokart seine Runden. Spätestens 2022 gehen die letzten Lichter aus. Vielleicht wohnt Maren dann in Manheim-neu. „Aber schön ist das dort nicht. Zumindest noch nicht.“
Das nahe Retorten-Örtchen hat den Charme einer Fertigteilhauswelt, der blauen Lagune in Vösendorf. Hanne, 56, geht mit dem Hund an der Leine spazieren. Auf der Straße. Gehsteige gibt es an dieser Ecke noch nicht. Das Leben in einem Retorten-Dorf hat anfangs Schattenseiten. Oder genauer: Ein Problem ist, dass es keinen Schatten gibt. „Nirgends ein großer Baum“, stöhnt die 56-Jährige. Manheim-neu fehlen Altholz und dichte Hecken. Also gibt es zwar Baulärm, aber keine Vögel, kein Gezwitscher. Es dauert eben, bis die Natur Wurzeln schlägt.
Wer einen Ort neu gründet, muss sich ziemlich viele Frage stellen, zum Beispiel, was mit den Toten geschehen soll. Sollen sie eher früher oder später nach Manheim-neu umgebettet werden? Die Antwort lautete ziemlich früh. Der Hintergedanke: Falls jemand stirbt, soll man den Sarg zwei Jahre nicht anrühren. Die Toten müssten dann auf einem Friedhof im verwaisten Manheim-alt ruhen, während die Angehörigen schon in Manheim-neu leben.
Auch der Kreisligaverein Viktoria Manheim ist umgezogen. Man spielt jetzt auf Kunstrasen. Im Vereinsraum, Teil des neuen Bürgerzentrums, riecht es nach frischer Farbe. Wolfgang Eßer, Klubchef, sitzt auf einer Heurigenbank und erzählt und erzählt. Der Zeitsoldat in Ruhestand ist ein Kind der Region. Schon zweimal zwang ihn die Braunkohle zum Umzug. Das erste Mal tat mehr weh: „Es war emotionaler“. Königshoven, auch sein Elternhaus dort, wurden vom Tagebau Garzweiler ver-
In einer Schaufel des Kohlebaggers ließe sich ein Klein-Pkw parken.