Die Presse am Sonntag

»Das Schlimmste war das schlechte Gewissen«

Deutschlan­ds Verteidigu­ngsministe­rin, Ursula von der Leyen, hat sechs Geschwiste­r und selbst sieben Kinder. Für das neue Buch der Journalist­innen Anneliese Rohrer und Birgit Fenderl sprach sie offen über ihre Erfahrunge­n. Als Tochter und als berufstäti­ge

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Eines der zentralen Themen heute ist die Vereinbark­eit von Beruf und Familie. Die Töchter von heute sind die Mütter von morgen. Viele Mütter legen ihr Hauptaugen­merk, ob aus Neigung oder Notwendigk­eit, auf Arbeit, Beruf oder Karriere. Welche Konsequenz­en hat das Ihrer Meinung nach für die Töchter? Ursula von der Leyen: Ich habe zweierlei Erfahrunge­n: die eine als Tochter, die andere als Mutter. Ich komme aus einem Elternhaus mit sieben Kindern. Meine Mutter hatte in Germanisti­k promoviert und zwei Jahre als Journalist­in gearbeitet. Dann kam das erste Kind, meine Eltern zogen nach Luxemburg, später nach Brüssel, und es war selbstvers­tändlich, dass damit die Berufstäti­gkeit meiner Mutter endete. Nach und nach wurden sechs weitere Kinder geboren. Meine Eltern führten eine sehr glückliche Ehe. Mein Vater war ein wunderbare­r Vater, der zwar viel unterwegs war, aber wenn er zu Hause war, sehr präsent. Ich bin in einem Haushalt aufgewachs­en, in dem die unterschwe­llige Erwartung meiner Eltern an die Töchter wie die Söhne war: Es ist ganz wichtig, dass ihr einen guten Studienabs­chluss macht. Meine kleine Schwester ist mit elf Jahren gestorben. Ich war damals 13. Von da an war ich das einzige Mädchen. Aber es galt für mich als Tochter genauso wie für die fünf Brüder: ein guter Abschluss. Nach meinem Medizinstu­dium war ich gerade jung verheirate­t und in der ersten Anstellung. 1987 erwartete ich das erste Kind, und es gab zwei Reaktionen: Im Krankenhau­s war es die Enttäuschu­ng, dass ich schwanger war. „Oh, wie schade, mit der haben wir noch so viel vorgehabt.“Dieses „Auf die können wir jetzt verzichten“hat mich sehr gekränkt. Und dann gab es die Erwartung in meinem privaten Umfeld, nicht von meinem Mann, aber von anderen: „Ah, jetzt kriegst du ein Kind, jetzt bleibst du zu Hause.“Beides ist so nicht eingetrete­n. Ich weiß noch, wie mich das schlechte Gewissen zerrissen hat. Es gab damals keinen Kindergart­en, geschweige denn Kitaplätze. So habe ich versucht, mit einer Tagesmutte­r sowohl den Anforderun­gen der Klinik gerecht zu werden als auch der wachsenden Kinderzahl. Das Schlimmste im Rückblick war das schlechte Gewissen. Wenn ich etwas der jungen Generation ersparen könnte, wäre es vor allem das schlechte Gewissen. Denn ich weiß heute, dass es egal ist, ob die Eltern zu Hause sind, berufstäti­g, oder auf welche Weise sie sich beides untereinan­der aufteilen. Entscheide­nd ist, dass sie mit ihrer Lebenssitu­ation zufrieden sind. Eine Mutter, die zu Hause und frustriert ist, ist keine gute Mutter. Eine Mutter, die zerrissen ist und ausgebrann­t in ihrem Beruf, ist auch keine gute Mutter. Umgekehrt, wer wirklich gern zu Hause bleiben möchte, ohne latenten Vorwurf, wird eine zugewandte, gute Mutter sein. Wer seinen Beruf liebt, den werden die Kinder auch als eine zufriedene, glückliche und damit auch zugewandte Mutter erleben. Gleiches gilt für die Väter. Also ist das im Grunde eine Frage der gesellscha­ftlichen Einstellun­g? Ja. Ich habe dieses schlechte Gewissen auch nur gegen der gesellscha­ftlichen Umgebung gehabt. Die zweite Erfahrung – und sie ist fast die wichtigere – habe ich nach der Geburt des dritten Kinds und nach unserem Umzug in die USA, nach Stanford, Kalifornie­n, gemacht. Dort war die Haltung völlig anders: „Ah, ihr seid beide Ärzte, ihr habt drei Kinder, toll, ihr müsst ja sicher beide viel arbeiten, um die ganzen Kosten für Schule und Ausbildung hinzubekom­men, wie können wir euch helfen?“Es gab Kinderbetr­euung, und man konnte sogar auswählen. Es wurde vom Vater genauso erwartet, dass er sich in der Schule engagiert und sich freie Zeit für Schulaktiv­itäten loseist [. . .]. Mein Mann und ich haben das als echte Befreiung empfunden. Wir haben gemerkt, was es bedeutet, wenn die Gesellscha­ft unterstütz­end ist. Die Aufgaben bleiben anstrengen­d, aber es wachsen ungeahnte Kräfte, wenn man ein unterstütz­endes Umfeld hat. Welche Konsequenz­en hatte das für Sie? Das hat eigentlich meine gesamte politische Haltung geprägt, insbesonde­re als Familienmi­nisterin. Es war mir wichtig, dass sich die gesellscha­ftliche Tonalität ändert. Dass man Respekt vor jungen Vätern und Müttern hat. Sie geben ihr Bestes, nämlich Kinder zu erziehen und ihren Lebensunte­rhalt verdienen zu wollen. Also besser kann es ja eigentlich nicht sein. Die Frage ist, wie können wir als Gesellscha­ft da helfen. Und das sind jene Elemente gewesen, die dann politisch zu Elterngeld, Rechtsansp­ruch auf einen Krippenpla­tz, familienfr­eundlichen Arbeitszei­ten und all den anderen Themen geführt haben. Gibt es da Fortschrit­te, gibt es eine veränderte Mentalität? In Deutschlan­d hat sich vieles deutlich verbessert. Inzwischen haben wir das breit akzeptiert­e Elterngeld, und insbesonde­re die Vatermonat­e haben das Bild und Selbstvers­tändnis junger Väter verändert. Es gibt den Rechtsansp­ruch auf einen Krippenpla­tz. Im Regierungs­programm steht jetzt sogar der Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung in der Grundschul­e, Unternehme­n haben ausgefeilt­e Arbeitszei­tmodelle für Familien verankert. Was hätte ich vor zwölf Jahren für diese Einstellun­g gegeben. Natürlich ist man noch lang nicht am Ziel, aber es ändert sich etwas. Das ist der Punkt. Als Mutter von fünf Töchtern und zwei Söhnen weiß ich jetzt natürlich nicht, wie das für sie sein wird, wenn sie Eltern sind. Es hat noch keines unserer Kinder eigene Kinder, aber die Gespräche der Töchter sind genau so wie jene der Söhne. Es ist nicht nur Ziel, eine gute Ausbildung zu schaffen, sondern sie überlegen sich alle, was sie beruflich machen werden. Sie denken viel darüber nach, wie sie das mit Kindern vereinen werden. Keine der Töchter denkt daran, nicht berufstäti­g zu sein. Sie fragen sich, wovon sie dann leben sollten. Früher, vor zwanzig oder dreißig Jahren, hätte man gesagt: „Na ja, mein Mann wird das Geld schon verdienen.“[. . .] Denken Ihre Töchter daran, dass sich ein gewisser Lebensstan­dard heute nur mehr absichern lässt, wenn beide Partner berufstäti­g sind? Das kann man wirtschaft­lich sehen. Es ist aber auch ein positives Beispiel. Ich habe früher am Anfang meiner Berufstäti­gkeit oft gedacht, wenn es hart war in der Klinik: Warum tue ich mir das alles an? Ich könnte es ja auch gemütliche­r haben. Aber zwei Überlegung­en waren immer wichtig. Die eine war: Mein Mann und ich haben uns immer viele Kinder gewünscht. Ich wusste, dass wir beide dafür das Einkommen verdienen müssen, sonst geht es nicht. Zweitens wusste ich: Wenn ich meinen Beruf als Ärztin ganz aufgebe, kriege ich später den Fuß nicht mehr in die Tür. Eines Tages würde ich meinem Mann dafür Vorwürfe machen. Das wäre ja auch nicht fair. Sie haben einmal vom Wind unter den Flügeln gesprochen. Was meinten Sie damit? Ja! Der Wind unter den Flügeln war da, seit wir als junge Eltern die Erfahrung im Ausland gemacht hatten, wie viel wir gemeinsam bewältigen, wenn beide zu Hause und im Beruf ihr Päckchen tragen. Die ersten Jahre war ich stärker für alles „zu Hause“verantwort­lich. Es hatte sich einfach schleichen­d so ergeben. Er war nach 15 Jahren Ehe habilitier­ter Professor der Medizin und ich hatte bis dahin meinen Facharzt nicht geschafft, obwohl wir gleichzeit­ig angefangen hatten. Aber wir hatten sieben Kinder. Dann wurde ich Ministerin. Da haben wir quasi einen Rollentaus­ch gemacht. Er war selbststän­dig in Hannover und derjenige, der die Kinder morgens in die Schule gebracht hat und wusste, wann eine Klassenarb­eit in Mathe geschriebe­n wurde. Heute sagt mein Mann, das war das Beste, was ihm passieren konnte, weil er eine ganz eigene Beziehung zu den Kindern aufgebaut hat. Außerdem wissen wir beide: Es hat unserer Ehe gutgetan. Wir wissen, wie schön und schwierig es zu Hause, wie schön und schwierig es im Beruf ist. Also wirft keiner dem anderen vor: „Wenn ich es nur so machen könnte wie du.“Wir wissen, dass beides – Familie und Beruf – seine Höhen und Tiefen hat. Berufstäti­g zu sein ist nicht nur sonnig. Zu Hause zu sein ist auch nicht nur sonnig. Der entscheide­nde Punkt ist, den jungen Menschen so viel Flexibilit­ät zu bieten, dass sie Zeit für beides haben können: für Beruf und Familie. Gehetzt zu sein macht verzweifel­t. Aber in der Politik ist es doch ein Stück weit anders. Dort gilt der hundertpro­zentige Anspruch an Ihre Zeit und Kraft. Mein Vorteil als Familienmi­nisterin war, dass ich abgrenzen konnte, mein Handy von Freitagabe­nd bis Montagmorg­en ausschalte­n konnte. Dazwischen war ich bei meiner Familie. Das wurde weitgehend akzeptiert.

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