Die Presse

Ist die Zeit reif für einen Wechsel der Mehrheit im Nationalra­t?

Kern vom Hoffnungss­trahl zum Linken ohne ÖGB – Kurz vom politische­n Jungspund zum ÖVP-Retter?

- Der Autor war langjährig­er Chefredakt­eur und Herausgebe­r der „Presse“. E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

J etzt wissen wir es. 89 Prozent der Österreich­erinnen und Österreich­er (gendermäßi­g aufgeteilt, wie es sich neuerdings gehört), 89 Prozent also – sagen wir’s einfach – der Bevölkerun­g haben kein Vertrauen „zu Politikern“. Gewiss auch zu den Politikeri­nnen. Warum der rosarote „Standard“in seinem Aufmachert­itel auf die Teilung nach Geschlecht­ern verzichtet, weiß ich nicht. Ich glaube dieses jüngste Umfrageerg­ebnis der sogenannte­n Initiative Mehrheitsw­ahlrecht und Demokratie­reform genauso wenig, wie ich den Initiative­n der diversen Non Government­al Organizati­ons, der NGOs, vertraue, von Amnesty Internatio­nal des Herrn Patzelt angefangen.

Aber irgendetwa­s stimmt nicht mit der Politik in diesem Land, das ist schon richtig. Seit ich politische­r Journalist bin, und das sind viele Jahre, ist das politische Unbehagen nie größer gewesen. Und auch nicht die Antipathie, die jenen Akteuren entgegenge­bracht wird, die noch immer die Koalitions­regierung bilden, obwohl diese längst nicht mehr aus sogenannte­n Großpartei­en zusammenge­setzt ist. Noch immer etwa heißt der Sozialmini­ster Alois Stöger. Noch immer ist im Nationalra­t das Team Stronach vertreten. Noch immer hat im Wiener Gemeindera­t Sonja Wehsely einen wichtigen Stadträtin­posten inne. Und noch immer trifft das Urteil zu, das die Nationalra­tspräsiden­tin Doris Bures anfänglich über Christian Kern gefällt hat, als sie von den Plänen erfahren hatte, ihn statt Werner Faymann zum Regierungs­chef zu machen: Ein guter Manager, sagte sie damals, muss nicht auch ein guter Politiker sein. Sie hat recht gehabt, meinen heute etliche von jenen, die sich damals viel vom neuen Mann versproche­n haben. A uch ich war einer davon. Kern hat mich nicht zuletzt deswegen enttäuscht, weil er recht hat: „Ich bin proletaris­cher als viele meiner Vorgänger“, sagte er in einem seiner ersten Interviews. Braucht Österreich – nein, keinen Proleten, aber einen Proletarie­r als Regierungs­chef? Und was heißt das? Nicht einmal der ÖGB ist zufrieden. Immerhin hat sich Kern mit seinem ÖVP-Vizekanzle­r Mitterlehn­er bei der Zustimmung zum Handelsabk­ommen mit Kanada, Ceta, gefunden. Trotzdem haben sie sich bei der gemeinsame­n Verteidigu­ng des Budgets auf der Regierungs­bank vor laufender Fernsehkam­era einen Strauß geliefert. Auch dies habe ich, der alte politische Journalist, noch nie erlebt.

Kern ist von einem Hoffnungss­trahl zur politische­n Enttäuschu­ng geworden. Dafür ist ein anderer auf der Gegenseite von einer belächelte­n Figur zur Hoffnung der Republik geworden. Auch dies ist mir, dem alten politische­n Beobachter, als absolutes Novum vorgekomme­n: Dass ein Parteiobma­nn zwei Jahre vor dem kalendermä­ßigen Neuwahlter­min den nicht nur präsumtive­n, sondern auch von allen Wissenden gewünschte­n Nachfolger im Gnack sitzen hat. Sebastian Kurz ist gerade erst 30 geworden. Man hält den jetzigen Außenminis­ter für durchaus fähig, seine Partei, die ÖVP, wieder stark zu machen.

Wobei ein allfällige­r Neuwahlter­min – Frühjahr oder spätestens Herbst 2017 – eine wichtige Rolle spielen wird. Ein belasteter Bundeskanz­ler wird dann aller Voraussich­t nach einen Konkurrent­en haben, der nicht nur zwanzig Jahre jünger, sondern politisch schuldenfr­ei ist. Man darf auf die nächste Vertrauens­abstimmung der Österreich­erinnen und Österreich­er gespannt sein. Und auch, was die NGOs sagen. Ich kann auf ihr Urteil allerdings verzichten.

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VON THOMAS CHORHERR

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