Die Presse

Ein Monitoring für die österreich­ische Demokratie

Wahlforsch­ung. Die Österreich­er wählen heute nicht mehr nur eine Partei, sondern lassen sich von Themen leiten, die die Kandidaten vertreten. Forscher haben Nationalra­ts- und EU-Parlaments­wahlen wissenscha­ftlich begleitet.

- VON ALICE GRANCY

„Demokratie ist ein komplexes Zusammensp­iel vieler Akteure“, sagt Sylvia Kritzinger von der Universitä­t Wien. Daher liegt der Fokus ihrer Forschung auch nicht auf Präsidents­chaftswahl­en, bei denen verstärkt Einzelpers­onen im Mittelpunk­t stehen. Die Sozialwiss­enschaftle­rin interessie­rt vielmehr, wie politische Parteien, Medien und Wähler zusammensp­ielen. Sie leitete sieben Jahre lang Studien zum Wahlverhal­ten, ein Teilprojek­t des Nationalen Forschungs­netzwerks Autnes (siehe Lexikon). Darin untersucht­en Forscher das Wahlverhal­ten der Österreich­er bei Nationalra­ts- und EU-Parlaments­wahlen seit dem Jahr 2008.

Was hat sich in dieser Zeit geändert? Soziodemog­rafische Merkmale wie Alter, Geschlecht, Bildungsst­and und Beruf würden noch immer ein gutes Sensorium dafür bieten, wie jemand wählt, sagt Kritzinger. Früher seien Wahlausgän­ge dennoch viel vorhersehb­arer gewesen. Denn die Bauern, die Arbeiter oder die Unternehme­r wussten, für wen sie stimmen. Als die Mittelklas­se seit den 1970erJahr­en wuchs, lösten sich die Menschen von ideologisc­hen Mustern, aus Stammwähle­rn wurden Wechselwäh­ler, die klassische­n Parteien gerieten unter Druck.

Am Marktplatz der Themen

Zugleich wurden sogenannte Issues, also konkrete Themen, an denen sich die Menschen orientiere­n, immer wichtiger. Wohlfahrts­staat, Arbeitsplä­tze, Migration und Integratio­n blieben dabei stets auf der politische­n Agenda. Darauf reagierten auch die politische­n Spin Doktoren. Issue Management avancierte zum PR–Schlagwort, mit dem Parteien Themen gezielt zu besetzen versuchen.

Der Wahlkampf entwickelt­e sich immer mehr zu einem Marktplatz an Themenange­boten: Man fühlt sich keiner Partei mehr verpflicht­et, sondern wägt ab, welche die eigenen Interessen in zentralen Punkten am besten vertritt. In der Autnes-Studie wurden die Parteien und ihre Kandidaten als Angebotsse­ite, die Wähler als Nachfrages­eite betrachtet. Die Medien sahen die Forscher als Vermittler, die die thematisch­e Agenda aber auch aktiv mitgestalt­en. „Wir waren die ersten, die sich Wahlen in dieser Breite angeschaut haben“, sagt Kritzinger.

Die Forscher nutzten für die Untersuchu­ng sozialwiss­enschaftli­che Werkzeuge wie Inhaltsana­lysen, bei denen Texte zunächst ma-

(Austrian National Election Study), die Österreich­ische Nationale Wahlstudie, startete 2009. Im vom Wissenscha­ftsfonds FWF finanziert­en Forschungs­netzwerk kooperiert­en Kommunikat­ionswissen­schaftler um Sylvia Kritzinger, Wolfgang Müller und Hajo Boomgaarde­n. Sie entwickelt­en ein Modell, in dem nicht nur die Wähler betrachtet werden; die Forscher interessie­rt das Wechselspi­el von politische­n Parteien, Wählern und Medien. Das Projekt endete im Sommer, nun bemühen sich die Forscher um eine Verlängeru­ng. nuell, später auch automatisi­ert ausgewerte­t wurden, oder Befragunge­n, die vor, während und nach einer Wahl durchgefüh­rt wurden.

So entstand ein Monitoring der österreich­ischen Demokratie, in dem sich der gesellscha­ftliche Wandel über einen langen Zeitraum beobachten lässt. Während Meinungsfo­rscher meist im Auftrag politische­r Parteien agieren und rasch Ergebnisse brauchen, zeichneten die Forscher ein unabhängig­es und detaillier­tes Bild der Realität. Das Projekt ist kürzlich ausgelaufe­n, nun hoffen sie auf weitere Finanzieru­ng. Denn um Veränderun­gen zu verstehen, brauche es Kontinuitä­t, sagt Kritzinger.

Gibt es eine Prognose für die nächsten Wahlen? „Das ist nicht Fokus der akademisch­en Wahlforsch­ung. Uns interessie­rt vielmehr, wie es zu Veränderun­gen kommt“, so Kritzinger. Allen, die dieses Interesse teilen, stehen die Daten übrigens auf www.autnes.at frei zur Verfügung – etwa anderen Wissenscha­ftlern wie auch politische­n Parteien und ihren Beratern.

Newspapers in German

Newspapers from Austria