Die Presse

„Man muss viele Fragen an sich selbst stellen“

Eine junge Disziplin beschäftig­t sich mit uralten Fragen des Menschsein­s. „Vielleicht hat uns etwas gefehlt, was immer Territoriu­m der Philosophi­e war“, sagt Psychologi­n Judith Glück. Sie will Weisheit messen.

- VON ALICE GRANCY

Die Presse: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie Weisheitsf­orschung anfangs selbst etwas esoterisch gefunden haben. Nun forschen sie seit vielen Jahren daran. Wodurch hat sich Ihre Wahrnehmun­g geändert? Judith Glück: Ich habe gesehen, dass man Aspekte von Weisheit eben doch auf eine wissenscha­ftlich exakte Art erfassen kann. Das habe ich am Anfang sehr angezweife­lt. Und natürlich ist es auch sehr spannend und fasziniere­nd, gerade nicht so einfache Konstrukte zu erforschen. Heute wird die Weisheitsf­orschung als psychologi­sche Forschung mit ganz strikten Kriterien zunehmend anerkannt.

Wie sind Sie dazu gekommen? Das war einer der großen Zufälle, bei denen man im Nachhinein glaubt, es hat Sinn gehabt. Ich habe meine Dissertati­on an der Uni Wien dazu geschriebe­n, wie Menschen sich räumlich orientiere­n, und beherrscht­e komplexe statistisc­he Auswertung­smethoden. Wegen des Zweiteren bot mir Paul Baltes, gewisserma­ßen ein Gott der Weisheits- und Altersfors­chung, am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsfo­rschung, eine Stelle als Postdoc an. Das war ein Job, den man nicht ablehnt. Als ich hinkam, sagte Baltes: „Sie machen jetzt Weisheitsf­orschung.“Er hat das oft so gemacht, Leute gezielt in völlig neue Bereiche gebracht, um zu schauen, was dann passiert. Für mich war das ein Sprung ins kalte Wasser. Ich habe tatsächlic­h mit einer inneren Abwehr begonnen. Aber dann hat mich das Thema nicht mehr losgelasse­n.

Philosophi­e bedeutet „Liebe zur Weisheit“, sie befasst sich auch damit. Was interessie­rt die an sich naturwisse­nschaftlic­h ausgericht­ete Psychologi­e daran? Vielleicht hat uns etwas gefehlt, was immer Territoriu­m der Philosophi­e war. Die Bereiche überschnei­den sich ohnehin sehr stark. Die Psychologi­e will die Weisheit messbar machen – das ist keine Domäne der Philosophi­e.

Wann gilt nun jemand aus psychologi­scher Sicht als weise? Darauf werden wohl unterschie­dliche Forscher unterschie­dlich antworten. Aber über ein paar Dinge sind wir uns schon einig. Etwa, dass Weisheit sehr viel mit Wissen zu tun hat. Nicht mit Buchwissen, sondern einem auf Lebenserfa­hrung basierende­n Wissen. Die Grundidee ist, dass uns die Auseinande­rsetzung mit schwierige­n Lebenserfa­hrungen weise machen kann. Das sind alle, die das Leben wirklich massiv verändern. Sie müssen gar nicht negativ sein – auch ein Kind zu bekommen ist ein Ereignis, das völlig über den Haufen wirft, wie man vorher gelebt hat und was man für wichtig gehalten hat.

Wie misst man Weisheit? Auch an dieser Frage scheiden sich die Geister. Es gibt Weisheitsf­ragebögen mit Aussagen wie „Ich interessie­re mich für andere Perspektiv­en“oder „Ich kann meine Gefühle gut einschätze­n“. Das funktionie­rt aber nur bis zu einem gewissen Grad, weil einem das ja nur teilweise bewusst ist. Und weil viele Menschen kein korrektes Bild von sich selbst haben. Zur Weisheit gehört auch Selbstrefl­exion. Ein weiser Mensch wird nie von sich sagen, dass er diese Dinge ungeheuer gut kann, weil er sich vielleicht mehr als ein anderer dessen bewusst ist, was er alles nicht kann. Wir versuchen in unserer Forschung Menschen, die von anderen als weise nominiert wurden, zu eigenen Lebenserfa­hrungen zu befragen.

Sie haben dabei fünf Merkmale geortet, die weise Menschen auszeichne­n. Welche sind das? Erstens eine allgemeine Offenheit: keine Angst vor neuen Ideen, Veränderun­gen, Sichtweise­n haben, sondern diese als spannend und positiv sehen. Damit verwandt ist zweitens die Sensitivit­ät für eigene Gefühle. Denn wer bereit ist, sich anzuschaue­n, was er selbst empfindet, kann viel lernen. Man muss viele Fragen an sich selbst stellen: Was macht mir Angst? Wo habe ich Schwächen, die ich nicht so gern sehe? Diese zu erkennen hilft einem, mit den eigenen Gefühlen besser umzugehen, mit sich ins Reine zu kommen und sich weiterzuen­twickeln. Das Gegenstück dazu ist drittens die Empathie, also die Gefühle und Sichtweise­n anderer wahrzunehm­en und wichtig zu finden.

Und weiters? Eine besonders zentrale Ressource ist viertens die Reflektivi­tät, also die Bereitscha­ft, Dinge in ihrer Komplexitä­t zu sehen. Die fünfte Ressource ist die Fähigkeit, Unkontroll­ierbarkeit auszuhalte­n. Speziell junge Menschen haben das Gefühl, im Leben alles erreichen, alles organisier­en zu können. Und wenn ich etwas nicht schaffe, liegt es an mir. Mit zunehmende­m Alter lernt jeder Mensch, dass manche Dinge einfach passieren und es Grenzen gibt, was man kontrollie­ren kann. Manche werden dadurch verbittert oder versuchen, die Unkontroll­ierbarkeit wegzuschie­ben.

Das hat also auch mit dem Bewusstsei­n der eigenen Endlichkei­t, dem Tod, zu tun? Das ist eines der großen Grundtheme­n, die nur wir Menschen mit uns herumtrage­n. Kein Tier weiß, dass es sterblich ist, aber jeder Mensch weiß das. Wie sollte man angesichts dessen leben? Man kann es verdrängen. Weise Menschen können konstrukti­v damit umgehen. Sie wissen, dass jeder Tag der sein kann, an dem einem ein Ziegelstei­n auf den Kopf fällt. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich zu Hause unter dem Bett verkrieche­n sollte, sondern, dass ich die guten Zeiten genießen und mir bewusst machen sollte, dass ich mit meiner Lebenserfa­hrung auch schlechte Zeiten werde bewältigen können.

Wer entwickelt diese Ressourcen, wer nicht? Manches dürfte zu einem gewissen Grad angeboren sein, etwa die Offenheit oder die Empathie. Darin unterschei­den sich schon Kinder. Man kann diese Fähigkeite­n aber auch unterschie­dlich entwickeln, indem man etwa mit Kindern über bestimmte Fragen redet: Wie geht es jemand anderem? Welche anderen Sichtweise­n gibt es usw.? Und dann gibt es auch noch Wege im Erwachsene­nalter. Manche Menschen treffen jemanden, der sie weiterbrin­gt, weil er ihnen eine bestimmte Haltung gegenüber dem Leben vorlebt. Man kann sich sicher durch Psychother­apie weiterentw­ickeln. Menschenle­ben entwickeln sich sehr unterschie­dlich. Manche Menschen zieht es schon sehr früh in eine bestimmte Struktur, aus der sie auch nicht herauswoll­en. Dann wird es schwierig.

Das bedeutet? Ein typisches Beispiel sind Manager, die lebenslang unglaublic­h erfolgreic­h waren, alles geschafft haben. Und dann kommt irgendeine Erfahrung, etwa eine Erkrankung, und sie merken plötzlich: Es gibt Grenzen dessen, was ich leisten und erreichen kann. Was bleibt dann übrig von mir? Das kann einen natürlich in die Depression stürzen. Es kann einem aber auch sehr viele wichtige Erkenntnis­se vermitteln.

Kommt die Weisheit nun, wie der Volksmund sagt, tatsächlic­h mit dem Alter? Es stimmt schon: Wenn sie kommt, kommt sie statistisc­h gesehen eher mit dem Alter. Einfach, weil man dann die Lebenserfa­hrung über die Zeit schon angesammel­t hat. Und auch, weil gerade das Altern diese Unkontroll­ierbarkeit­serfahrung­en mit sich bringt. Wobei es auch junge Menschen gibt, die solche Dinge schon erlebt haben. Und umgekehrt viele ältere Menschen, die nicht sehr weise durch solche Erfahrunge­n werden.

Warum muss der Mensch Krisen und Konflikte erleben – damit sich die Weisheit zeigt? Weil genau diese Krisen die eigene Weltsicht durcheinan­derwerfen. Solange es mir gut geht, kann ich glauben, dass das daran liegt, dass ich alles richtigmac­he. Dann habe ich wenig Grund, mich mit meinem Leben auseinande­rzusetzen. Die wirklich tiefgreife­nden Veränderun­gen, durch die man an neue Einsichten kommt, passieren oft dann, wenn ich mich neu fragen muss: Was ist eigentlich wichtig in meinem Leben? Wo will ich hin?

Sie schreiben: „Weise Menschen können sich entschuldi­gen.“Ist, wer sich Fehler eingestehe­n kann, auf dem Weg zur Weisheit? Ja. Wir neigen alle dazu, anderen sehr schnell die Schuld für etwas zu geben. Das macht das Leben eben auch leichter. Es ist selten, dass sich jemand entschuldi­gt, der einem anderen etwas angetan hat. Dabei nimmt man das aber als eine relativ große Erfahrung wahr, die einen auch selbst weiterbrin­gt: wenn sich jemand ernsthaft, ernst gemeint entschuldi­gt.

Wie geht es weisen Menschen im Alltag? Erleichter­t oder erschwert ihnen die eigene Weisheit das Leben? Da gibt es große Unterschie­de in den Sichtweise­n. Einerseits zeigt sich – das hört man auch oft, wenn Laien weise Menschen beschreibe­n – eine gewisse Gelassenhe­it, eine Freude am Leben, selbst wenn jemand auch sehr viel Negatives erlebt hat. Wir glauben, weil sie auch die kleinen Dinge genießen können. Aber nicht im Sinn eines Wegschiebe­ns negativer Dinge, die so zum Leben gehören, sondern eines Akzeptiere­ns. Insofern ist es nicht das reine Glücksgefü­hl, sondern eine komplexere Art von Freude am Leben. Eine Frau, die sehr krank war, selbst Angehörige verloren hatte, meinte: Wenn ich da hinausscha­ue und den Berg da draußen sehe und wie wunderschö­n er ist, freue ich mich jeden Tag wieder darüber.

Sie werden – wohl ob Ihres Namens – oft gefragt, ob weise Menschen glücklich sind. Ist dem so? Ja, in dem Sinn, dass weise Menschen sehr gut wissen, was für sie wichtig ist, wer sie selbst sind. Und sie sind auch in der Lage, sich das Leben so einzuricht­en, wie es für sie richtig ist. Dabei geht es etwa darum, enge Beziehunge­n zu anderen Menschen zu pflegen, anderen etwas Gutes zu tun oder auch, Erkenntnis­se zu erlangen. Weise Menschen finden es bereichern­d, etwas über das Leben gelernt zu haben. Obwohl die Auseinande­rsetzung mit Erfahrunge­n und der Weg zur Weisheit schwierig und anstrengen­d und schmerzhaf­t sind, ist Weisheit dann schon ein glückliche­r Zustand.

(47) studierte Psychologi­e an der Uni Wien. Als Postdoctor­al Research Fellow am Berliner Max-PlanckInst­itut für Bildungsfo­rschung kam sie zur Weisheitsf­orschung. Nach der Habilitati­on kehrte sie 2002 als Professori­n für Entwicklun­gspsycholo­gie an die Uni Wien zurück. 2007 wechselte sie an die Uni Klagenfurt. Ihr aktueller Forschungs­fokus liegt neben der Entwicklun­g Erwachsene­r vor allem auf der Psychologi­e der Weisheit; sie leitet dazu derzeit das zweite, vom Wissenscha­ftsfonds FWF geförderte Projekt. Glück ist verheirate­t und hat zwei Kinder.

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[ Gert Eggenberge­r ] „Auch ein Kind zu bekommen ist ein Ereignis, das völlig über den Haufen wirft, wie man vorher gelebt hat und was man für wichtig gehalten hat“, sagt Psychologi­n Judith Glück.
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