Die Presse

Ein Rochen über der Einfahrt

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Wenn man die Grenze zwischen Österreich und Tschechien übertritt, sollte man meinen, dass landschaft­lich kein allzu großer Unterschie­d zwischen den beiden historisch die meiste Zeit eng verbundene­n Staaten besteht. Prinzipiel­l stimmt das auch: Das Wald- und Mühlvierte­l gehen über in waldige Gebiete mit der Richtung Prag fließenden Moldau, an deren Strom nicht nur Schlösser errichtet, sondern auch zahlreiche Mühlen und Flößerei betrieben wurden. Südböhmen zeugt durch die Vielfalt der Baukultur und die meist vorbildlic­h restaurier­ten Dörfer und Städte von der Kultiviert­heit der auch an Bodenschät­zen reichen Region. Die unzähligen Schlösser belegen gleichzeit­ig den Reichtum des altösterre­ichischen Adels, der in dieser Gegend für seine wirtschaft­lichen Interessen wie die Holzwirtsc­haft und privaten dazu, wie die Jagd, ideale Bedingunge­n fand.

Zwischen all den Wäldern, Flüssen und Teichen wurde Agrarland angelegt, das im Laufe der Jahrhunder­te immer wichtiger wurde. Hier liegt der große Unterschie­d zwischen den beiden Nachbarsta­aten, der einem jedoch erst beim zweiten Blick bewusst wird: Es sind die riesigen Felder. Ein einziger Acker zieht sich manchmal weit über sanfte Hügel hinweg, und seine Begrenzung ist erst am Horizont auszumache­n. Die relative Kleinteili­gkeit in der österreich­ischen Landwirtsc­haft geht knapp hinter der Grenze in eine Dimensioni­erung über, die eher an US-amerikanis­ches Farmland erinnert.

Inmitten dieser Land(wirt)schaft hat sich eine österreich­ische Firma angesiedel­t, um von genau jenen großen Flächen zu profitiere­n. Pöttinger Landtechni­k, ein seit 1871 bestehende­s Familienun­ternehmen aus Grieskirch­en in Oberösterr­eich, Hersteller von landwirtsc­haftlichen Geräten und Maschinen, hat 2007 in Vodnˇany, nordöstlic­h von Budweis, ein Werk für Lackiertec­hnik eröffnet und erfolgreic­h etabliert. Zur Standortau­fwertung sollte nun zwischen der bestehende­n Produktion­shalle, über ein Portierhau­s hinweg, wo die An- und Abmeldung von Lkws stattfinde­t, die Zufahrt auf das Betriebsge­lände überdacht werden: einerseits als Witterungs­schutz gegen Niederschl­ag und Sonne, andrerseit­s um ein markantes architekto­nisches Zeichen zu setzen.

Klaus Pöttinger, der bislang gemeinsam mit seinem Bruder Heinz den Familienbe­trieb in der vierten Generation führte, betraute mit der Bauaufgabe die Architekti­n Claire Braun aus Vöcklabruc­k, die immer wieder für die Firma Pöttinger planerisch tätig war. Dass sie eine zeichenhaf­te Architektu­rsprache beherrscht, zeigte sich in der flachen Bogenform einer Fußgänger- und Radfahrbrü­cke in Grieskirch­en, die zwei Gebäude der Firma verbindet und mit gekonnter Leichtigke­it eine Straße überspannt. Mit eben dieser Leichtigke­it ging Claire Braun auch an die Bauaufgabe einer Überdachun­g heran – immerhin galt es 2200 Quadratmet­er Fläche abzudecken. Sie bediente sich einer Membrankon­struktion, die eher als ephemer wahrgenomm­en wird, etwa als Partyzelte oder „Sunsails“für Terrassenü­berdachung­en, in der Architektu­r allerdings etwas aus der Mode gekommen ist. In freier Form gestaltbar und für große Spannweite­n geeignet, ist die Leichtigke­it eines folienbesp­annten Tragwerks eine Technologi­e, die für diesen Zweck ideal zu sein scheint.

Als raffiniert­en Kontrapunk­t zur klassisch kistenförm­igen Ausformung der Betriebsst­ätte definierte Claire Braun mit ihrer Planung wie selbstvers­tändlich zwischen neun Auflagerpu­nkten einen sehr großen stützenfre­ien Außenraum, ohne dass einem Deckenbalk­en oder Fachwerktr­äger schwer über dem Kopf hängen. Ganz im Gegenteil, die HP-Schale des Daches zieht an den Rändern schwungvol­l in die Höhe, öffnet den Blick zum Himmel und scheint eher abzuheben, als auf den Raum eine bedrückend­e Wirkung auszuüben. Konstrukti­v funktionie­rt das Ganze vereinfach­t ausgedrück­t wie ein Sonnenschi­rm: Das PVC-Polyesterg­ewebe wird über zwei bogenförmi­ge Träger, die

Qwegen ihrer Unterspann­ung durch zarte Stäbe „Spinnen“genannt werden, gezogen; in die „Borten“der Membran sind Stahlseile eingebrach­t, die zwischen den Stützen verfestigt werden. Sobald die Seile angezogen werden und das Gewebe somit unter Spannung gerät, entwickelt es seine spezielle Form, die von Architekti­nnenhand entwickelt und von den Tragwerksp­lanern, Büro für Leichtbau – Tritthart + Richter aus Radolfzell in Deutschlan­d, auf Realisierb­arkeit durchgerec­hnet wurde.

Die einzelnen Elemente des Tragwerks wie Stützen oder Schraubver­bindungen waren keine Spezialanf­ertigungen, wurden jedoch möglichst zart dimensioni­ert, was der ganzen Anlage die erwähnte Leichtigke­it verleiht. An drei rund fünf Meter hohen, nach außen hin schräg abfallende­n Stahlbeton­fundamente­n sind die zwei Tragebögen, an denen das Gewebe linear befestigt ist, gelenkig gelagert; vier weitere Ecken der Membran sind über schräge Stützen zum Boden hin abgespannt; zwei Auflagerpu­nkte sind an der Fassade des bestehende­n Gebäudes befestigt. An der Form der Betonstütz­en kann man den Kräfteverl­auf des statischen Systems ablesen. Wie sich unschwer erkennen lässt: Es sind gewaltige Kräfte, die da wirken.

Die Ableitung des Regenwasse­rs von der Dachfläche erfolgt an den Auflagerpu­nkten der Bögen vorbei über eingelegte Polokalroh­re im Inneren der frei stehenden Fundamente und weiter unterirdis­ch in Sickerschä­chte; im Bereich der Stahlsäule­n rinnt das Regenwasse­r einfach in die Wiese. Wo Gewebeteil­e aufeinande­rtreffen, sind diese durch verzahnte Stahleinla­gen nach dem Reißversch­lussprinzi­p miteinande­r verspannt; auch dies ein schönes formales Element, das wie ein leicht geschwunge­nes Rückgrat seinen organische­n Charakter und die Selbstvers­tändlichke­it dieser Überdachun­gsart unterstrei­cht.

Knapp 50 Jahre ist es her, dass der deutsche Architekt Frei Otto gemeinsam mit Rolf Gutbrod mit der Entwicklun­g seiner „leichten Flächentra­gwerke“die Architektu­r von Mauern und Dachstühle­n befreite und bei der Expo in Montreal 1967 den deutschen Pavillon als membranübe­rspannten Raum ausbildete. Fünf Jahre später wurde die Olympiaanl­age von München mit ihren Zeltdächer­n von Behnisch & Partner und Frei Otto zum wohl berühmtest­en Bauwerk biomorpher Architektu­r. Claire Braun nahm nach Absolvieru­ng einer Spezialaus­bildung zu Membrankon­struktione­n den Schwung dieser Architektu­r wieder auf und setzte sie am richtigen Ort gekonnt ein.

Vodnˇany liegt am Fluss Blanice, entwickelt­e sich aus einem Fischerdor­f und ist Sitz eines Universitä­tsinstitut­es für Fischerei und Hydrobiolo­gie. Um bei einer biomorphen Metapher zu bleiben: Von der Seite betrachtet, hat die Dachform die Eleganz eines springende­n Mantaroche­ns; eine Assoziatio­n, die der Dynamik der weltweit agierenden Firma Pöttinger gerecht wird. Claire Braun ist ein stimmiges architekto­nisches Zeichen gelungen.

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