Literatur mit Langzeitwirkung
K ennen Sie das Gefühl, ein Buch erst beim zweiten oder dritten Mal Lesen wirklich zu verstehen? An meine Schulzeit zurückdenkend, fallen mir zu viele Romane, Novellen und Dramen ein, die ich wohl eher mit 26 oder 36 hätte lesen sollen als mit 16, als sie mir eine Lebenswelt vorgezeichnet hatten, die für mich völlig unzugänglich war. Wie viele Meisterwerke bleiben Generationen von Schülern verhasst, weil sie Pflichtlektüre waren? „Die Weber“zum Beispiel von Hauptmann; der Maschinensturm war mir damals fremd; heute hingegen kann man aus diesem Stück manche lohnende Sichtweise auf die vierte industrielle Revolution und die Robotisierung gewinnen. Steinbecks „The Grapes of Wrath“mochte ich zwar gern, wirklich verstanden habe ich seine ungebrochene soziale Gültigkeit aber erst nach meinen Jahren als Amerika-Korrespondent und mehreren Reisen an jene Orte, wo der amerikanische Traum sich zum Sterben hingelegt hat.
Jüngst hat mich auf persönlicher Ebene eine Novelle von Francoise¸ Sagan eingeholt. „Aimez-vous Brahms . . .“, 1959 erschienen, ein vorrangiges Beispiel für den anspruchsvollen Unterhaltungsroman, den die 2004 verstorbene Sagan schon als blutjunge Autorin zur Meisterschaft entwickelt hat. Aufmerksame Leserinnen und Leser dieser Kolumne wissen, dass „Aimez-vous Brahms . . .“mich vor mehr als einem Jahrzehnt in eine absurde Leseblockade versetzt hat (24. Juli 2006). Nicht und nicht kam ich über jene Schlüsselszene hinweg, in der die 39-jährige Paule und ihr 25-jähriger Verehrer Simon in der Salle Pleyel sitzen und einem Brahms-Konzert lauschen. Auf zwei Zugfahrten habe ich es nun ausgelesen, und wenn Sie es nicht kennen, möchte ich es Ihnen für den Sommer als Ferienlektüre empfehlen. „Lieben Sie Brahms?“, fragt Simon Paule, und ihr fährt es wie der Blitz ein: „Liebte sie noch etwas anderes als sich selbst und ihre eigene Existenz?“Ich war so alt wie Simon, als ich an dieser Szene hängenblieb. Ich musste so alt wie Paule werden, um sie zu verstehen.