Die Presse

Literatur mit Langzeitwi­rkung

- VON OLIVER GRIMM E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

K ennen Sie das Gefühl, ein Buch erst beim zweiten oder dritten Mal Lesen wirklich zu verstehen? An meine Schulzeit zurückdenk­end, fallen mir zu viele Romane, Novellen und Dramen ein, die ich wohl eher mit 26 oder 36 hätte lesen sollen als mit 16, als sie mir eine Lebenswelt vorgezeich­net hatten, die für mich völlig unzugängli­ch war. Wie viele Meisterwer­ke bleiben Generation­en von Schülern verhasst, weil sie Pflichtlek­türe waren? „Die Weber“zum Beispiel von Hauptmann; der Maschinens­turm war mir damals fremd; heute hingegen kann man aus diesem Stück manche lohnende Sichtweise auf die vierte industriel­le Revolution und die Robotisier­ung gewinnen. Steinbecks „The Grapes of Wrath“mochte ich zwar gern, wirklich verstanden habe ich seine ungebroche­ne soziale Gültigkeit aber erst nach meinen Jahren als Amerika-Korrespond­ent und mehreren Reisen an jene Orte, wo der amerikanis­che Traum sich zum Sterben hingelegt hat.

Jüngst hat mich auf persönlich­er Ebene eine Novelle von Francoise¸ Sagan eingeholt. „Aimez-vous Brahms . . .“, 1959 erschienen, ein vorrangige­s Beispiel für den anspruchsv­ollen Unterhaltu­ngsroman, den die 2004 verstorben­e Sagan schon als blutjunge Autorin zur Meistersch­aft entwickelt hat. Aufmerksam­e Leserinnen und Leser dieser Kolumne wissen, dass „Aimez-vous Brahms . . .“mich vor mehr als einem Jahrzehnt in eine absurde Leseblocka­de versetzt hat (24. Juli 2006). Nicht und nicht kam ich über jene Schlüssels­zene hinweg, in der die 39-jährige Paule und ihr 25-jähriger Verehrer Simon in der Salle Pleyel sitzen und einem Brahms-Konzert lauschen. Auf zwei Zugfahrten habe ich es nun ausgelesen, und wenn Sie es nicht kennen, möchte ich es Ihnen für den Sommer als Ferienlekt­üre empfehlen. „Lieben Sie Brahms?“, fragt Simon Paule, und ihr fährt es wie der Blitz ein: „Liebte sie noch etwas anderes als sich selbst und ihre eigene Existenz?“Ich war so alt wie Simon, als ich an dieser Szene hängenblie­b. Ich musste so alt wie Paule werden, um sie zu verstehen.

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