Die Presse

Wo es Kindern nicht mehr erlaubt war, Kind zu sein

Augenzeuge­nbericht aus dem vom IS zurückerob­erten irakischen Mossul.

- VON IAN DAWES Der gebürtige Australier Ian Dawes arbeitet seit einem halben Jahr als Einsatzlei­ter der internatio­nalen Kinderhilf­sorganisat­ion World Vision im Irak. Zuvor war er unter anderem in Afghanista­n und in Laos im Einsatz.

Vor ein paar Tagen war ich in Mossul und habe die Zerstörung­en mit eigenen Augen gesehen: die Gebäude in Schutt und Asche, die Straßen verlassen. Vom einst größten Elektrizit­ätskraftwe­rk ist nichts mehr da außer Metallteil­en und Mauerreste­n. Es gibt kaum Strom oder fließendes Wasser, geschweige denn Schulen oder Krankenhäu­ser. Es ist so wenig übrig, dass man ganz von vorn wird anfangen müssen.

In den Nachrichte­n wurden in den vergangene­n Monaten immer wieder dramatisch­e Gefechte und aufsteigen­de Rauchwolke­n von Bombeneins­chlägen gezeigt. Aber das Mossul, das ich zuletzt gesehen habe, war schaurig still – und kein Ort, an den Kinder zurückkehr­en können, zumindest derzeit nicht.

Denn es wurden nicht nur Gebäude zerstört, sondern auch die Lebensgrun­dlagen für die Kinder und ihre Familien. Nach drei Jahren IS-Herrschaft und Monaten des Kampfes befinden sich die Familien, die World Vision in Flüchtling­slagern außerhalb von Mossul unterstütz­t, weiterhin in einer verzweifel­ten Lage. Viele Mütter sorgen allein für ihre Kinder, weil ihre Männer entführt oder getötet wurden. Viele wissen es nicht genau.

Tragische Erlebnisse

Familien, die sich in Sicherheit bringen konnten, erzählen tragische Überlebens­geschichte­n. So haben Kinder zusehen müssen, wie Leute auf der Straße geköpft wurden. Wir werden wohl nie ganz begreifen, was die Kinder dieser Stadt durchgemac­ht haben. Einige konnten nicht einmal mehr sprechen, als sie in die Lager kamen.

Unsere Teams aus ausgebilde­ten Sozialarbe­itern helfen den Kindern dabei, das Erlebte zu verarbeite­n. Ich werde den kleinen Buben nie vergessen, der unaufhörli­ch vor- und zurückscha­ukelte. Ihm rollten Tränen über die Wangen, und er weigerte sich zu sprechen. IS-Kämpfer hatten ihm ein Bild der Leiche seines enthauptet­en Vaters geschickt.

Einige Leute sehen die jüngsten Entwicklun­gen bereits als das Ende einer Krise. Doch aus unserer Sicht beginnt die Arbeit eigentlich erst jetzt richtig. Die Gefahr durch überall vergrabene Minen muss beseitigt und fast die ganze Stadt wieder aufgebaut werden. Und für die meisten Familien kann Hilfe nicht schnell genug kommen, ihre Situation ist mehr als kritisch.

Sehnsucht nach Bildung

Gemeinsam mit einer Partnerorg­anisation haben wir bereits begonnen, Schulen wiederherz­ustellen. Es ist schön zu sehen, dass inmitten des Chaos sich Kinder immer noch nach Bildung sehnen – und die Eltern sie dabei unterstütz­en. Ich traf Buben, die zwei Jahre nicht zur Schule gingen, und einige, die IS-Schulen besuchten, wo nur Gewalt und Extremismu­s auf dem Lehrplan standen. Mädchen durften gar nicht in die Schule gehen; sie mussten die meiste Zeit in ihren Häusern bleiben.

Kurz gesagt: Kindern war es nicht erlaubt, Kind zu sein. In unseren Kinderschu­tzzentren können Kinder in sicherer Umgebung spielen, lachen und lernen – all das war ihnen in Mossul in den vergangene­n drei Jahren verwehrt.

Auch wenn Mossul nicht mehr unter IS-Kontrolle ist, gibt es nach wie vor Regionen im Irak, die noch nicht zurückerob­ert wurden. Auch dort leben Tausende Menschen. World Vision unterstütz­t geflüchtet­e Familien weiter mit medizinisc­hen Gütern, sicheren Spielräume­n und Bildungsan­geboten für Kinder. Im ganzen Land sind mehr als drei Millionen Menschen auf der Flucht.

Es gibt einen Funken Hoffnung für die Zukunft, dass wieder Farbe, Leben und Freude auf die Straßen Mossuls zurückkehr­en. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

Newspapers in German

Newspapers from Austria