Wo es Kindern nicht mehr erlaubt war, Kind zu sein
Augenzeugenbericht aus dem vom IS zurückeroberten irakischen Mossul.
Vor ein paar Tagen war ich in Mossul und habe die Zerstörungen mit eigenen Augen gesehen: die Gebäude in Schutt und Asche, die Straßen verlassen. Vom einst größten Elektrizitätskraftwerk ist nichts mehr da außer Metallteilen und Mauerresten. Es gibt kaum Strom oder fließendes Wasser, geschweige denn Schulen oder Krankenhäuser. Es ist so wenig übrig, dass man ganz von vorn wird anfangen müssen.
In den Nachrichten wurden in den vergangenen Monaten immer wieder dramatische Gefechte und aufsteigende Rauchwolken von Bombeneinschlägen gezeigt. Aber das Mossul, das ich zuletzt gesehen habe, war schaurig still – und kein Ort, an den Kinder zurückkehren können, zumindest derzeit nicht.
Denn es wurden nicht nur Gebäude zerstört, sondern auch die Lebensgrundlagen für die Kinder und ihre Familien. Nach drei Jahren IS-Herrschaft und Monaten des Kampfes befinden sich die Familien, die World Vision in Flüchtlingslagern außerhalb von Mossul unterstützt, weiterhin in einer verzweifelten Lage. Viele Mütter sorgen allein für ihre Kinder, weil ihre Männer entführt oder getötet wurden. Viele wissen es nicht genau.
Tragische Erlebnisse
Familien, die sich in Sicherheit bringen konnten, erzählen tragische Überlebensgeschichten. So haben Kinder zusehen müssen, wie Leute auf der Straße geköpft wurden. Wir werden wohl nie ganz begreifen, was die Kinder dieser Stadt durchgemacht haben. Einige konnten nicht einmal mehr sprechen, als sie in die Lager kamen.
Unsere Teams aus ausgebildeten Sozialarbeitern helfen den Kindern dabei, das Erlebte zu verarbeiten. Ich werde den kleinen Buben nie vergessen, der unaufhörlich vor- und zurückschaukelte. Ihm rollten Tränen über die Wangen, und er weigerte sich zu sprechen. IS-Kämpfer hatten ihm ein Bild der Leiche seines enthaupteten Vaters geschickt.
Einige Leute sehen die jüngsten Entwicklungen bereits als das Ende einer Krise. Doch aus unserer Sicht beginnt die Arbeit eigentlich erst jetzt richtig. Die Gefahr durch überall vergrabene Minen muss beseitigt und fast die ganze Stadt wieder aufgebaut werden. Und für die meisten Familien kann Hilfe nicht schnell genug kommen, ihre Situation ist mehr als kritisch.
Sehnsucht nach Bildung
Gemeinsam mit einer Partnerorganisation haben wir bereits begonnen, Schulen wiederherzustellen. Es ist schön zu sehen, dass inmitten des Chaos sich Kinder immer noch nach Bildung sehnen – und die Eltern sie dabei unterstützen. Ich traf Buben, die zwei Jahre nicht zur Schule gingen, und einige, die IS-Schulen besuchten, wo nur Gewalt und Extremismus auf dem Lehrplan standen. Mädchen durften gar nicht in die Schule gehen; sie mussten die meiste Zeit in ihren Häusern bleiben.
Kurz gesagt: Kindern war es nicht erlaubt, Kind zu sein. In unseren Kinderschutzzentren können Kinder in sicherer Umgebung spielen, lachen und lernen – all das war ihnen in Mossul in den vergangenen drei Jahren verwehrt.
Auch wenn Mossul nicht mehr unter IS-Kontrolle ist, gibt es nach wie vor Regionen im Irak, die noch nicht zurückerobert wurden. Auch dort leben Tausende Menschen. World Vision unterstützt geflüchtete Familien weiter mit medizinischen Gütern, sicheren Spielräumen und Bildungsangeboten für Kinder. Im ganzen Land sind mehr als drei Millionen Menschen auf der Flucht.
Es gibt einen Funken Hoffnung für die Zukunft, dass wieder Farbe, Leben und Freude auf die Straßen Mossuls zurückkehren. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.