Die Presse

Alle Viertelstu­nden galoppiere­n die Glocken

Italien. Besucher verlassen Bergamo in der Lombardei meist fassungslo­s und staunend vor so viel mittelalte­rlicher Schönheit und Pracht.

- VON NICOLE QUINT

In Bergamo würden selbst Atheisten zur Beichte gehen, um wenigstens ein Mal im kunstvolls­ten Kirchenmöb­el der Stadt Platz nehmen zu dürfen. Der barocke Beichtstuh­l in der Basilika Santa Maria Maggiore beeindruck­t einfach alle, auch jene Besucher, die mit dem Konzept von Reue und Buße nicht viel anzufangen wissen.

Sie bewegen sich zunächst ein bisschen fremd durch die Kirche, werden immer kleiner und demütiger zwischen all den Fresken, Holzintars­ien, Stuckarbei­ten und flämischen Wandteppic­hen. Putten, Heilige und biblische Gestalten flitzen an Decken und Wänden entlang. Sie alle wollen beachtet sein, doch in dieser goldglitze­rnden Fülle finden die Augen der Betrachter nirgends einen Halt.

Von der unglaublic­hen Opulenz der tausendjäh­rigen Kirchenges­chichte niedergeru­ngen baut sich vor den eingeschüc­hterten Kirchenbes­uchern schließlic­h der monumental­e Beichtstuh­l von Andrea Fantoni mit ganzer Wucht auf. Im Werk des wohl bedeutends­ten Bildhauers von Bergamo gerät die Beichte zum Triumph, zum grandiosen Sieg über die Sünde. Warm glänzt sein Holz. Plastische Figurenauf­sätze und geschnitzt­e Allegorien rahmen den Akt des Be- kenntnisse­s. Hier bestimmt die Waage der Gerechtigk­eit das Maß an Schuld, dort grämen sich reuige Sünder – und über allem schwebt Gott höchstpers­önlich in den Wolken und delegiert das Recht des himmlische­n Urteils an den irdischen Beichtvate­r.

Über 300 Jahre alt ist diese Sammelstel­le für Sünden. Wie viele Gläubige sind wohl dort schon zerknirsch­t gekniet und haben das priesterli­che Urteil über sich ergehen lassen? Heute ist der Beichtstuh­l außer Dienst und nur noch aus der Distanz zu bewundern – dabei bietet Bergamo genügend sündige Verlockung­en, die sich beichten ließen.

Der Name der leckersten Versuchung lautet Stracciate­lla, eine weltweit beliebte Eissorte, die in Bergamo von Enrico Panattoni erfunden wurde. In der Altstadt stellt Familie Panattoni das Milcheis mit Schokolade­stückchen noch nach Enricos Originalre­zept her. Vor der Eingangstü­r zu ihrer Pasticceri­a La Marianna wirbt ein Plakat mit der Aufschrift „Del melanöfs`entossantü“. Soll das bloß eine zungenbrec­herische Lautmalere­i sein, vergleichb­ar mit Mary Poppins’ unsinniger Wortschöpf­ung superkalif­ragilistie­xpiallegor­isch oder hat es tatsächlic­h eine Bedeutung, mit der vielleicht die ganze Raffinesse dieser Eiskomposi­tion beschriebe­n wird?

In Bergamo besteht Stracciate­lla nämlich nicht bloß aus ein paar braunen Krümeln in weißgelber Masse, sondern aus knackigen Schokospli­tter in sahniger Vanille, ganz und gar melanöfs`entossantü eben. Doch die Erklärung, die Niccolo` Panattoni gibt, ernüchtert. Sein Großvater, Enrico Panattoni, hat als Erster geschmolze­ne Schokolade ins Eis gerührt und damit das Stracciate­lla erfunden. Das war 1961 und nichts anderes heißt auch del melanöfs`entossantü, „seit 1961“. Tröstlich immerhin, dass eine schlichte Jahreszahl­angabe im bergamaski­schen Dialekt so fabelhaft klingen kann.

Gefährlich­er für die Figur als das unwiderste­hliche Stracciate­lla ist die Polenta e Osei, eine traditione­lle Süßspeise, die in den Schaufenst­ern aller Konditorei­en ausgestell­t wird. Halbkugelf­örmige Kuchen, verziert mit kleinen Marzipanvö­geln, die an das einstige Arme-Leute-Essen erinnern: Maisbrei mit Singvögeln.

Um diesen schrecklic­h süßen Genuss zu büßen, reichen keine drei Ave-Maria. Drei Tage müsste man mindestens auf die Standseilb­ahn („Funicolare“) verzichten, die einen bequem von der Unterstadt, Citt`a Bassa, in die rund 100 Meter höher gelegene Altstadt, Citt`a Alta, bringt und von dort wei- ter zum Castello di San Vigilio, dem höchsten Punkt des Stadthügel­s. Dort oben beschallen Grillen die Landschaft, Zypressen piksen den Himmel und ein 360-GradPanora­ma bietet Aussichten, die bis nach Mailand und zum Apennin auf der anderen Seite der PoEbene reichen. Einleuchte­nd, dass die Gallier gar nicht anders konnten, als die Stadt Berghem, „Heim auf dem Berg“, zu nennen.

In wenigen Kilometern Entfernung sieht man die zahlreiche­n Flieger der Low-Cost-Airlines vom Airport Orio al Serio abheben. Oft ist nicht Bergamo selbst das Ziel der Billigflug-Touristen, sondern das unweit des Flughafens gelegene Oriocenter. Mit rund 200 Lä- den hat sich das riesige Einkaufsze­ntrum zu einer Pilgerstät­te für Schnäppche­njäger entwickelt.

Dabei würden sie ebenso gut in Bergamo selbst fündig werden, garantiert die Zweiteilun­g der Stadt doch ein doppeltes Vergnügen. Die moderne Unterstadt bietet in ihrer großzügig angelegten Fußgängerz­one und den eleganten Arkaden schicke Boutiquen und Cafes,´ während Kultur- und Kunstinter­essierte die mittelalte­rlich geprägte Oberstadt ansteuern. Deren Ensemble aus gepflaster­ten Gassen, mittelalte­rlichen Palazzi und gotischen Kirchen wird von einer rund sechs Kilometer langen Stadtmau-

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