Alle Viertelstunden galoppieren die Glocken
Italien. Besucher verlassen Bergamo in der Lombardei meist fassungslos und staunend vor so viel mittelalterlicher Schönheit und Pracht.
In Bergamo würden selbst Atheisten zur Beichte gehen, um wenigstens ein Mal im kunstvollsten Kirchenmöbel der Stadt Platz nehmen zu dürfen. Der barocke Beichtstuhl in der Basilika Santa Maria Maggiore beeindruckt einfach alle, auch jene Besucher, die mit dem Konzept von Reue und Buße nicht viel anzufangen wissen.
Sie bewegen sich zunächst ein bisschen fremd durch die Kirche, werden immer kleiner und demütiger zwischen all den Fresken, Holzintarsien, Stuckarbeiten und flämischen Wandteppichen. Putten, Heilige und biblische Gestalten flitzen an Decken und Wänden entlang. Sie alle wollen beachtet sein, doch in dieser goldglitzernden Fülle finden die Augen der Betrachter nirgends einen Halt.
Von der unglaublichen Opulenz der tausendjährigen Kirchengeschichte niedergerungen baut sich vor den eingeschüchterten Kirchenbesuchern schließlich der monumentale Beichtstuhl von Andrea Fantoni mit ganzer Wucht auf. Im Werk des wohl bedeutendsten Bildhauers von Bergamo gerät die Beichte zum Triumph, zum grandiosen Sieg über die Sünde. Warm glänzt sein Holz. Plastische Figurenaufsätze und geschnitzte Allegorien rahmen den Akt des Be- kenntnisses. Hier bestimmt die Waage der Gerechtigkeit das Maß an Schuld, dort grämen sich reuige Sünder – und über allem schwebt Gott höchstpersönlich in den Wolken und delegiert das Recht des himmlischen Urteils an den irdischen Beichtvater.
Über 300 Jahre alt ist diese Sammelstelle für Sünden. Wie viele Gläubige sind wohl dort schon zerknirscht gekniet und haben das priesterliche Urteil über sich ergehen lassen? Heute ist der Beichtstuhl außer Dienst und nur noch aus der Distanz zu bewundern – dabei bietet Bergamo genügend sündige Verlockungen, die sich beichten ließen.
Der Name der leckersten Versuchung lautet Stracciatella, eine weltweit beliebte Eissorte, die in Bergamo von Enrico Panattoni erfunden wurde. In der Altstadt stellt Familie Panattoni das Milcheis mit Schokoladestückchen noch nach Enricos Originalrezept her. Vor der Eingangstür zu ihrer Pasticceria La Marianna wirbt ein Plakat mit der Aufschrift „Del melanöfs`entossantü“. Soll das bloß eine zungenbrecherische Lautmalerei sein, vergleichbar mit Mary Poppins’ unsinniger Wortschöpfung superkalifragilistiexpiallegorisch oder hat es tatsächlich eine Bedeutung, mit der vielleicht die ganze Raffinesse dieser Eiskomposition beschrieben wird?
In Bergamo besteht Stracciatella nämlich nicht bloß aus ein paar braunen Krümeln in weißgelber Masse, sondern aus knackigen Schokosplitter in sahniger Vanille, ganz und gar melanöfs`entossantü eben. Doch die Erklärung, die Niccolo` Panattoni gibt, ernüchtert. Sein Großvater, Enrico Panattoni, hat als Erster geschmolzene Schokolade ins Eis gerührt und damit das Stracciatella erfunden. Das war 1961 und nichts anderes heißt auch del melanöfs`entossantü, „seit 1961“. Tröstlich immerhin, dass eine schlichte Jahreszahlangabe im bergamaskischen Dialekt so fabelhaft klingen kann.
Gefährlicher für die Figur als das unwiderstehliche Stracciatella ist die Polenta e Osei, eine traditionelle Süßspeise, die in den Schaufenstern aller Konditoreien ausgestellt wird. Halbkugelförmige Kuchen, verziert mit kleinen Marzipanvögeln, die an das einstige Arme-Leute-Essen erinnern: Maisbrei mit Singvögeln.
Um diesen schrecklich süßen Genuss zu büßen, reichen keine drei Ave-Maria. Drei Tage müsste man mindestens auf die Standseilbahn („Funicolare“) verzichten, die einen bequem von der Unterstadt, Citt`a Bassa, in die rund 100 Meter höher gelegene Altstadt, Citt`a Alta, bringt und von dort wei- ter zum Castello di San Vigilio, dem höchsten Punkt des Stadthügels. Dort oben beschallen Grillen die Landschaft, Zypressen piksen den Himmel und ein 360-GradPanorama bietet Aussichten, die bis nach Mailand und zum Apennin auf der anderen Seite der PoEbene reichen. Einleuchtend, dass die Gallier gar nicht anders konnten, als die Stadt Berghem, „Heim auf dem Berg“, zu nennen.
In wenigen Kilometern Entfernung sieht man die zahlreichen Flieger der Low-Cost-Airlines vom Airport Orio al Serio abheben. Oft ist nicht Bergamo selbst das Ziel der Billigflug-Touristen, sondern das unweit des Flughafens gelegene Oriocenter. Mit rund 200 Lä- den hat sich das riesige Einkaufszentrum zu einer Pilgerstätte für Schnäppchenjäger entwickelt.
Dabei würden sie ebenso gut in Bergamo selbst fündig werden, garantiert die Zweiteilung der Stadt doch ein doppeltes Vergnügen. Die moderne Unterstadt bietet in ihrer großzügig angelegten Fußgängerzone und den eleganten Arkaden schicke Boutiquen und Cafes,´ während Kultur- und Kunstinteressierte die mittelalterlich geprägte Oberstadt ansteuern. Deren Ensemble aus gepflasterten Gassen, mittelalterlichen Palazzi und gotischen Kirchen wird von einer rund sechs Kilometer langen Stadtmau-