Leo Tolstoi war der Dieter Wedel der russischen Aristokratie
Wenn man bei der Auswahl der Lektüre besonders achtsam sein will, kann sich das verheerend auf Bibliotheken auswirken. Voltaire, dieser Freigeist, gehört verboten, er verdirbt die Jugend!
Unter Bibliophilen ist die Klage verbreitet: „Wohin mit all den Büchern, die einem aus festlichem Anlass aufgedrängt wurden?“In ihren Salons seien alle Regale längst voll. Bei den Literaturfreunden im Gegengift- Team hat sich dieses Problem gelöst, seit wir bei der Auswahl der Werke das hehre Prinzip der Achtsamkeit beherzigen. Unsere Handbibliothek umfasste in weniger sensiblen Tagen an die 12.000 Bücher, doch seit wir sensibler sind und gesellschaftspolitisch korrigierend eingreifen, beschränkt sie sich auf ein Billy-Bord mittlerer Größe. Wie kam es zur Befreiung, die keine Liberalisierung ist?
Es begann damit, dass böse Menschen wie Louis-Ferdinand Celine,´ Ernst Jünger, Hernando de Acun˜a oder Wladimir I. Uljanow aussortiert wurden. Als aber die Säuberung den Gedichtband „The Cantos“von Ezra Pound erfasste, schlug der Arbeitskreis Lyrik zurück: Keine Gnade für diesen Günter Grass von der WaffenSS! Schließlich musste auch Pablo Neruda gehen – zu erotisch.
Inzwischen herrscht bei uns das Prinzip der Retaliation: Du nimmst mir meinen geliebten Ernest Hemingway (Amerikaner!) – dann schlägt auch Frankreich die Stunde. Deine Simone de Beauvoir darf nicht bleiben. (Zu tolerant gegen den Chauvinisten Jean-Paul Sartre!) „Leo Tolstoi war, was den Umgang mit Gesinde betraf, der Dieter Wedel der russischen Aristokratie“, schrie eine ältere Postfeministin, der wir nachweisen konnten, dass sie heimlich Unbehagliches von Judith Butler (Amerikanerin!) las. Kurz, es gab nur noch Krieg statt Frie- den, ein Hauen und Stechen setzte ein wie bei den Schlachten in Dramen von William Shakespeare. Der ist übrigens auch schon weg, nicht nur wegen „Romeo and Juliet“(Sex von Minderjährigen), sondern auch wegen „The Life of Henry the Fifth“(nationalistisch, frauenfeindlich).
Thomas Mann wurde generell verbannt, allein wegen einer Novelle, die in Venedig spielt. Um zarte Gemüter nicht sittlich zu gefährden oder ihnen dauerhaften seelischen Schaden zuzufügen, verzichten wir auf explizite Ausführungen seiner unzüchtigen Landschaftsbeschreibungen. Bei Voltaires Schriften waren sich unter uns sowohl strenggläubige Zoroastrianer, Christen, Buddhisten, Muslime wie auch orthodoxe Aufklärer einig: Dieser Freigeist gehört verboten, er verdirbt die Jugend! Beinahe hätten wir in einem begehbaren Medikamentenschrank, der leider schon länger nicht mehr benutzt wurde, einen dünnen grünen Band übersehen: „Zum ewigen Frieden“. Es setzte sich mehrheitlich folgendes Argument durch: Wir wollen keine Freaks aus Kaliningrad, die billiges Appeasement predigen.
Nach Mariä Lichtmess, einem Fest der Reinigung, kann ich folgende Bestandsaufnahme machen: Übrig geblieben sind Adalbert Stifters „Studien“und der Schlüsselroman eines populären zeitgenössischen Österreichers über dessen Vater – oder Mutter. Wir wissen es nicht genau, er ist noch in Plastik eingeschweißt. Außerdem besitzen wir bis auf Weiteres zwei Laufmeter mit Werken von Rosamunde Pilcher und einem rosa Buch: „Les 120 Journees´ de Sodome“. Die sind zwar völlig zerlesen, aber niemand unter unseren 77 Mitarbeitern hat bisher zugegeben, das getan zu haben.