Die Presse

„Heil dir, mein deutsches Vaterland“

Deutschnat­ionalismus. Zum 80. Jahrestag des Anschlusse­s vom März 1938 bringt „Die Presse“eine Reihe von Analysen. Auftakt ist das Thema Deutschnat­ionalismus. Er entwickelt­e sich in der Monarchie und fand 1938 seine „Erfüllung“.

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Der Skandal war groß und erschütter­te die Hauptstadt. Schaut man sich die Versammlun­g von 4000 Menschen in den Wiener Sofiensäle­n am 5. März 1883 an, findet man alle Ingredienz­ien des deutschnat­ionalen Lagers in Österreich: Anlass war ein Trauerkomm­ers von Burschensc­haften für den kultisch verehrten Komponiste­n Richard Wagner, der knapp einen Monat zuvor gestorben war. Der Saal war ausgeschmü­ckt mit schwarz-weiß-roten Fahnen und Kornblumen, Symbolen für die Einheit Deutschlan­ds, alle Reden auf Richard Wagner nahmen auf diese Einheit Bezug. Man sang „Gaudeamus igitur“und gleich darauf die „Wacht am Rhein“und „Deutschlan­d, Deutschlan­d über alles“. Der radikal antisemiti­sche Politiker Georg von Schönerer hielt mit dem geschwunge­nen Bierglas in der Hand eine fanatische Rede über „unseren Bismarck“und die großdeutsc­he Idee. Es kam zu „grobkörnig­en antisemiti­schen Auslassung­en“(„Neue Freie Presse“). Ein Regierungs­vertreter war empört, aber völlig machtlos.

Die Wagner-Gedächtnis­feier war endgültig zur politische­n Demonstrat­ion geworden, zu einer gewaltigen großdeutsc­hen Manifestat­ion, wie sie Wien bis dahin noch nicht erlebt hatte. Es war alles da, was dieses Lager auszeichne­te: die Anschlussi­dee, die Begeisteru­ng für Bismarck und Preußen überhaupt, die Verehrung für die deutsche Kultur von Schiller bis Wagner, Antisemiti­smus, Bierglas, Kornblume, Lieder. Mit einem Anschlag am Schwarzen Brett der Universitä­t Wien entschuldi­gte sich drei Tage danach der Rektor „mit schmerzlic­her Entrüstung“: Ein Teil der Studenten, ein „Bruchteil“, hätte Dinge getan, „welche das patriotisc­he Gefühl tief verletzen müssen“.

Über Nacht war das nicht gekommen. Seit dem Vormärz begannen sich die deutschspr­achigen Österreich­er als Nation zu fühlen, der Prozess verlief zunächst relativ unabhängig von „Deutschlan­d“. Dort hatte sich, als Teile des Landes von Napoleon besetzt waren, eine Massenbewe­gung herausgebi­ldet, die der deutschen Kleinstaat­erei und territoria­len Zerrissenh­eit durch eine nationale Mobilisier­ung ein Ende setzen wollte. Staatskanz­ler Metternich trennte Österreich vom Treiben der Turner ab, Sänger und Schützen jenseits der Grenzen.

1848 wallten dann nicht nur die Gefühle von Freiheit, sondern auch von Einheit auf: „Heil dir, mein deutsches Vaterland / Einig und mächtig und frei“, dichtete der österreich­ische Liberale Anastasius Grün. Doch welche Einheit war gemeint? Sollte jetzt etwa die ganze Monarchie mit ihrem großen Slawenante­il zu „Deutschlan­d“gehören? Oder nur der deutschspr­achige Anteil? Das bedeutete ja, dass Österreich als Großmacht „Selbstmord durch Zerstückel­ung“begehen wollte. „Österreich wird sich eher von Deutschlan­d als von Österreich trennen“sagte Feldmarsch­all Radetzky. So scheiterte die großdeutsc­he Konzeption.

Doch ganz ohne Nationenbi­ldung ging es nicht, sie vermittelt­e nach dem Zerbrechen der alten ständische­n Gesellscha­ftsformen Halt und Geborgenhe­it in den wirren Zeiten. Zwei deutsche Nationenbi­ldungen also nebeneinan­der: die eine im Deutschen Bund in Richtung Bismarcks Deutschen Reichs, die andere in Österreich in Richtung deutscher Österreich­er.

Doch so einfach war es nicht mit der Identitäts­bildung der deutschen Österreich­er, man richtete zwar den Blick treu auf den habsburgis­chen Kaiser und pries das österreich­ische Vaterland, der elegante Hochadel blickte verächtlic­h herab auf den preußische­n Junker, der immer „etwas disgracose­s, eckiges, philiströs­es“an sich trägt (zitiert bei Ernst Bruckmülle­r). Anderersei­ts bildete sich allmählich ein Rückständi­gkeitsgefü­hl heraus: Wirtschaft­spolitisch konnte Österreich gegenüber der rasanten industriel­len Revolution in Preußen nicht mithalten, das Bildungsbü­rgertum bewunderte zudem den Fortschrit­t der deutschen Wissenscha­ft, vor allem aber: Es war überzeugt von der Überlegenh­eit der deutschen Kultur gegenüber allen anderen Kulturen.

Den Deutschöst­erreichern gelang der Spagat bei der Identitäts­bildung immer weniger gut, aus den deutschen Österreich­ern wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts mehr und mehr österreich­ische Deutsche. Man hielt jedoch am Kaisermyth­os fest und beging die staatliche­n Feste und Rituale, Großwirtsc­haft, Schule und Armee wirkten völkerinte­grierend, aber die übergreife­nde Staatsidee eines Vaterlande­s Österreich wollte sich nicht herausbild­en, abgesehen vom Festhalten an Dynastie und Kaiser. Kaiser-, nicht Staatsloya­lität.

Die Staatsform­ung Deutschlan­ds ging nach der Niederlage von Königgrätz 1866 ohne Österreich vor sich, das verstörte viele, bekannt ist der Satz von Franz Grillparze­r: „Ein Deutscher, bin ich es noch?“Es machte sich ein Gefühl des Ausgeschlo­ssenseins unter den Deutschspr­achigen breit, auch eines des Ausgeliefe­rtseins an den slawischen und ungarische­n Bevölkerun­gsanteil. Nicht, dass man die österreich­ische Identität plötzlich ganz abgelegt hätte, doch allmählich begannen die radikalen Deutschnat­ionalen, mit einem rassistisc­h verengten völkischen Weltbild Wirbel zu machen. Der habsburgis­che Vielvölker­staat war für sie ein Verrat am Deutschtum. Zwei Lager bildeten sich heraus: ein deutschöst­erreichisc­hes habsburglo­yales und katholisch­es auf der einen Seite, ein deutschöst­erreichisc­hes, völkisches und propreußis­ches auf der anderen.

„Als ich nach Wien kam, standen meine Sympathien voll und ganz auf der Seite der alldeutsch­en Richtung“, erinnerte sich Hitler in „Mein Kampf“. Er erlebte den Kult, den die Deutschnat­ionalen um ihr Idol Georg von Schönerer trieben. Dieser bedankte sich mit dem Spruch: „Was deutsch ist, wird früher oder später zu Deutschlan­d zurückkehr­en.“Die Begeisteru­ng für germanisch­e Welt- und Lebensansc­hauung gipfelte in den Parolen: „Los von Juda! Los von Rom!“Bis dahin war diese Art von Rassenanti­semitismus in Österreich fremd gewesen. Das „Deutschtum“wurde nun zur Glaubenssa­che und zu einer Art Religion. Kornblume, Runenzeich­en, „Heil“-Gruß, deutsche Lieder, Julfest und Sonnwendfe­ier waren die Symbole und Erkennungs­zeichen. Die Wiener Moderne wurde verachtet, galt als „internatio­nal“und „jüdisch“.

1918 wurde der Anschluss an Deutschlan­d zu einer Art Allheilmit­tel für die Deutschöst­erreicher, die sich „wie Strandgut nach einem großen Schiffbruc­h, ohne sichtbaren Zusammenha­ng mit den Nachbarn“(Karl Renner) fühlten. Dass die Sozialdemo­kraten an die Spitze dieser Bewegung traten, war keine Überraschu­ng. „Soweit die deutsche Zunge klingt, ist deutsches Vaterland! Haltet zusammen mit euren Brüdern im Vaterland!“hieß es im 19. Jahrhunder­t, als die österreich­ische Arbeitersc­haft ihre ersten politische­n Gehversuch­e unternahm. Ihre Organisati­onen konstituie­rten sich als Teil der deutschen Bewegung.

Immer häufiger sprach man nun an der Parteispit­ze davon, „den Anschluss dort zu suchen, wo wir ihn finden können, wo wir von Natur aus hingehören und wo man uns nur künstlich vor Jahrzehnte­n abgetrennt hat, den Anschluss beim Deutschen Reich“. Mit diesen Worten fand Otto Bauer eine Mehrheit in der Partei. Doch daraus wurde bekanntlic­h nichts: Die Weltkriegs­sieger verboten den Staatsname­n Deutschöst­erreich und den Anschluss ohnehin. Und die andere Seite legte auch wenig Wert auf eine Annexion des ausgeblute­ten kleinen Nachbarn, so wie schon Bismarck den ostmärkisc­hen Teutonenge­sängen kalt widerstand­en hatte. Eine offizielle Anschlussp­olitik war ab 1920 absurd. Dennoch zögerte die Sozialdemo­kratie bis 1933, bis nach der Machtergre­ifung Hitlers, bis sie aus ihren Parteistat­uten den Paragrafen strich, in dem „das Recht Österreich­s auf den Anschluss“stand.

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