Rent a Grandpa
Wann sind Menschen wahr, wann spielen sie bloß Rollen, täuschen mögliche Wahrheiten vor? Was ist Wahrheit überhaupt? Wie lernt man, sich zugehörig zu fühlen? Und was hat das alles mit Glück zu tun? Milena Michiko Flasarˇ spürt diesen großen Fragen auch in ihrem neuen Buch nach.
Sechs Jahre nach dem erfolgreichen Roman „Ich nannte ihn Krawatte“stellt die Autorin wieder einen Mann ins Zentrum des Geschehens. Herr Kato¯ ist seit Kurzem im Ruhestand, der ihn unvorbereitet trifft. Jäh ist er aus seit Jahrzehnten gleichen Routinen gerissen und weiß mit der plötzlichen Freizeit nichts anzufangen. Erfüllt von nihilistischer Endzeitstimmung, streift er ziellos umher, als er eines Tages eine junge Frau kennenlernt. Mie arbeitet für die Agentur Happy Family. „Ich spiele Familie“, erklärt sie leichthin. Sie sei „sozusagen Schauspielerin“, werde als „Stand-in“gebucht, um Personen aus dem engsten Umkreis einer Familie zu ersetzen und für die Dauer einer einzigen Begegnung eine erwünschte Emotion zu verkörpern.
Herrn Katos¯ Interesse erwacht. Bald lässt er sich von Mie anwerben und trifft auf fremde Schicksale, die ihn rühren. Er wird zum Großvater, der seinen Enkel besucht, den er bisher ablehnte, und mit ihm ein paar Stunden verbringt. Er verkörpert einen schweigenden Mann, dessen Ehefrau nie zu Wort gekommen ist und nun in einem fort redet, bis sie von ihm die ersehnte Unterschrift auf der Scheidungserklärung erhält. Und er spielt einen Vorgesetzten, genießt die Unterwürfigkeit seiner Mitarbeiter und findet lobende Worte für sie. Herr Kato¯ geht in seinen Rollen auf. Er weiß in jeder Minute seines Spiels genau, wie er sich zu verhalten hat, weil er einem vorgegebenen Anforderungsprofil genügen kann. Und er genießt es, als Teil einer Familie gebraucht zu werden.
In seinem richtigen Leben allerdings kennt er das Gefühl der Zufriedenheit mit sich und seiner Welt nicht. Er erlebt sich als Scheiternden, der „mit lauter Unwägbarkeiten konfrontiert“ist, mit denen er nicht umgehen kann. Denn ihm fehlt jenes Drehbuch, das ihm zur Anleitung für richtiges Verhalten werden könnte. So war Herr Kato¯ trotz hohen Einsatzes im Büro über die Position eines Befehlsempfängers, der den Launen des Chefs ausgesetzt war, nie hinausgekommen. In der Familie hat er sich aus Mangel an Zeit und Interesse kaum engagiert, blieb seinen zwei Kindern ein Abwesender, mit dem sie, auch wenn er einmal da war, nichts anfangen konnten. Als einzig Verbindendes mit seiner Frau empfindet er eine zunehmende Entfremdung. Gemeinsam leben sie in einem hoch gelegenen Haus am Rand einer Vorstadt, das sie am liebsten verkaufen möchte, weil der steile
Herr Kato¯ spielt Familie Roman. 176 S., geb., € 20,60 (Wagenbach Verlag, Berlin) Weg hinauf zunehmend beschwerlich wird. Herr Kato¯ jedoch scheut jede Veränderung und hält geradezu zwanghaft an Gewohnheiten fest.
Um sein Leben im Ruhestand zu organisieren, beginnt er, Listen anzulegen, auf denen er Vorhaben notiert. So spielt er sich vor, Pläne zu haben, etwa das alte Radio zu reparieren oder seine Plattensammlung zu ordnen. Das wichtigste Ziel, eine seit Jahren bis ins Detail geplante Reise nach Paris mit seiner Frau, wird schließlich wie alle anderen an der Umsetzung scheitern. Allein jene sechs Grundregeln, die ihm Mie für seine Rollen in der Agentur Happy Family mitgibt, wird Herr Kato¯ mit der Zeit zu eigenen machen und schließlich sogar mit einer siebenten ergänzen. Es sind Regieanweisungen, die ihm zum Drehbuch für sein Verhalten werden. Die anstrengendste für ihn: zu lernen, nicht nur mit dem Mund, sondern mit dem ganzen Körper zu lächeln. Während er übt, beginnt seine Frau, die unter seinem Mangel an Beschäftigung und seiner ruppigen Unfreundlichkeit zu leiden hat, mit einem Tanzkurs. Und er erinnert sich auf einmal daran, dass er früher Gedichte geschrieben hat. Eine Erkrankung erzwingt
Qschließlich jene Änderungen, gegen die sich Herr Kato¯ bisher gewehrt hat, und lässt ihn in die Rolle des Pensionisten hineinwachsen.
Schauplatz des Romans ist eine Stadt in Japan, doch Milena Michiko Flasarˇ erzählt keine japanische, sondern eine exemplarische Geschichte, und ihr alternder Herr Kato¯ könnte genauso gut aus einem anderen Teil der Welt kommen. Die Autorin zeigt die moderne Realität unserer Leben, die immer auch eine verpasster Träume und Sehnsüchte ist und die Illusion in sich birgt, dass es noch etwas anderes geben müsste. Das Motiv des Schauspielens durchzieht das gesamte Buch, reicht weit zurück bis in Herrn Katos¯ Kindheit und wird selbst in kleinsten Szenen aufgegriffen. Es wird als Möglichkeit vorgeführt, Wahrheiten mit kleinen Lügen erträglicher zu machen. Dieses Schauspiel nicht aufzudecken, sondern Geheimnisse zu wahren, sie zu unterstützen oder gar an ihnen mitzustricken wird hier zu einem Akt der liebevollen Zuwendung und Mitmenschlichkeit.
Zu den Rollenwechseln in diesem Roman passt, dass Namen ohne Bedeutung sind. Sie fehlen zumeist (seine Frau, der Obdachlose, die Mutter) oder wurden angenommen. Denn Mie heißt in Wirklichkeit nicht Mie, auch Herr Kato¯ ist bloß der Name seiner ersten Rolle, des Großvaters. Und er zweifelt zuletzt sogar, ob nicht „in Wahrheit alles erfunden“und er als Stand-in „der einzig Echte“in einem Schauspiel gewesen sein könnte, der von nichts eine Ahnung gehabt hätte.
Milena Michiko Flasarˇ gelingt es, mit wenigen Worten ein Leben in seiner ganzen Komplexität zu entwickeln. Auf knapp 170 Seiten webt sie aus Erlebnissen, Gedanken und Erinnerungen ein luftig-leichtes Gewebe, zwischen dessen Fäden Abgründe lauern. Flasarˇ beherrscht die Kunst der Auslassung, deutet manches nur an, lässt Lesenden Raum, die Leerstellen zu füllen. Ein paar Längen im ersten Teil des Romans überzeugen als Teil der präzisen Dramaturgie und machen Herrn Katos¯ zielloses Dahintreiben subtil nachvollziehbar. Obwohl Flasarˇ die Handlung zumeist auf das Wesentliche reduziert, wird ihre Sprache nie karg, sondern ist außergewöhnlich poetisch und variantenreich und erfreut obendrein mit zahlreichen Aphorismen.
Mit Herrn Kato¯ erschafft sie einen wunderlichen Eigenbrötler auf der Suche nach dem Gefühl der Wichtigkeit, der durch seine Unfähigkeit zu kommunizieren behindert wird. In einer Mischung von Ignoranz und hilfloser Tollpatschigkeit wurstelt er sich durchs Leben und umkreist seine Wahrheiten, zu denen die Vorstellung des Unglücklichseins untrennbar dazugehört. Grundstimmung des Buchs ist jene der Melancholie. Trotzdem ist aus „Herr Kato¯ spielt Familie“kein trauriger, sondern ein lebenszugewandter Roman geworden, der vom Scheitern und vom Gelingen erzählt, vom Suchen, von dem Zauber kleiner Gesten und Dinge und von raren Glücksmomenten des Findens.