Leitartikel von Beate Lammer
Die Märkte haben gezeigt, dass sie auch fallen können. Ein Grund zur Panik ist das noch nicht. Vielmehr handelt es sich um eine Rückkehr zur Normalität.
E s war schon viel zu schön, um wahr zu sein. Die Aktienkurse kannten in den vergangenen Monaten nur eine Richtung: nach oben. Nicht nur das: Es gab auch (fast) keine lästigen Korrekturen, die den steilen Anstieg unterbrochen und die Anleger erinnert hätten, dass es nicht immer nur aufwärts gehen kann.
Die letzte schärfere Korrektur (mehr als zehn Prozent) im US-Leitindex Dow Jones sah man Anfang 2016, als viele eine harte Landung der chinesischen Wirtschaft befürchteten. Dann gingen die Börsen dazu über, Ereignisse wie das BrexitVotum, den gescheiterten Putschversuch in der Türkei, den Wahlsieg Donald Trumps oder das Säbelrasseln zwischen den USA und dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un zu ignorieren. Der Anstieg beschleunigte sich. Hatte der Dow Jones 2015 keine einzige neue Tausendermarke übersprungen, knackte er 2016 erstmals die 19.000 Zähler. Im Vorjahr sprengte er fünf weitere Tausendermarken und allein im heurigen Jänner zwei.
Dabei passierte etwas Gefährliches: Die Angst, dass die Kurse fallen könnten, sobald man selbst einsteigen würde, wich zunehmend der Angst, dass die Kurse weiter steigen könnten, während man selbst nicht dabei ist. Das zog Geld an die Aktienmärkte, das dort eigentlich nichts verloren hat. Zugleich sank die Nervosität an der New Yorker Börse, gemessen durch den Volatilitätsindex VIX, mehrfach unter die Marke von zehn Punkten. Das war ein Zehnjahrestief. Am 26. Jänner erreichte der Dow Jones schließlich ein vorläufiges Rekordhoch von 26.600 Zählern. D ann ging es abwärts. Zunächst langsam, dann rasch. Vorgestern – fast auf den Tag genau 381 Jahre nach dem Platzen der legendären Tulpenblase in Amsterdam – erlitt der Dow Jones einen Tagesverlust von 1100 Punkten. Zwischendurch waren es sogar 1600 Zähler. Noch nie zuvor hatte der US-Leitindex an einem einzigen Tag so viele Punkte eingebüßt.
Aber freilich kann man von einem hohen Niveau aus tief fallen. Am 19. Oktober 1987 hatte der Dow Jones 508 Punkte und damit fast 23 Prozent verloren, diesmal waren es nur 4,6 Prozent. Dennoch haben viele jüngere Anleger so etwas noch nicht erlebt: Zuletzt waren die US-Börsen 2011 an einem Tag so stark abgestürzt. Panik brach aus, automatische Verlustbegrenzungen wurden aktiviert und drückten die Kurse weiter nach unten. Der Nervositätsindex VIX schnellte von 18 auf über 40 Punkte hoch.
Am Abend des vorgestrigen „dunkelgrauen Montags“(© Daniel Saurenz von Feingold Research) lagen die Kurse dennoch nicht einmal zehn Prozent unter ihrem Rekordhoch. Im Sommer 2015 und Anfang 2016 hatte die Korrektur je fast 15 Prozent betragen. Machten Experten damals als Ursache die Sorgen um China aus, so ist es diesmal die Angst vor steigender US-Inflation: Eine solche könnte die US-Notenbank Fed zwingen, die Zinsen stärker anzuheben als geplant, und das könnte die Konjunktur einbremsen. Diese Angst hat in den vergangenen Wochen auch die Renditen von Staatsanleihen steigen lassen. D och wie geht es jetzt weiter? Kommt es wieder so schlimm wie 2015? Oder gar so brutal wie während der Finanzkrise, als die Kurse sich mehr als halbierten? Letzteres halten die meisten Experten für unwahrscheinlich, solange die Konjunktur weiter so gut läuft. Und das scheint sie vorerst zu tun: Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds soll die Weltwirtschaft heuer um 3,9 Prozent wachsen. Auslöser für einen richtigen Crash ist derzeit weit und breit keiner in Sicht.
Andererseits ist die Luft draußen. Der Run auf Aktien aus Angst, man könnte etwas versäumen, scheint vorerst gestoppt zu sein. Die Normalität ist an die Börsen zurückgekehrt. Nach monatelanger Ruhe haben sie wieder einmal gezeigt, dass sie auch schwanken können. Wer das nicht aushält, sollte dem Aktienmarkt fernbleiben. Die anderen Investoren können diese Phase zur Orientierung nutzen, um zu überlegen, wie viele und welche Aktien sie überhaupt haben wollen. Denn Angst, dass ihnen die Kurse davonlaufen könnten, brauchen sie vorerst auch keine zu haben.
Da war er wieder zu spüren, dieser Anflug von Panik in Manhattan. Im Minutentakt durchbrach der wichtigste Aktienindex, Dow Jones, mehrere Schallmauern nach unten, fiel zunächst um 500 Punkte, dann um 1000, dann um 1500. In den Kaffeehäusern nahe der Wall Street starrten die Menschen in Gruppen auf ihre Telefone. Im Fitnessstudio hielten die Leute inne, um die Talfahrt im Fernsehen zu verfolgen.
Am Ende des Tages, am späten Montagabend, stand ein Minus von 1175 Punkten oder 4,6 Prozent zu Buche. Der Kurssturz setzte sich am Dienstag zunächst stark in Fernost und dann in abgeschwächter Form in Europa fort. Der US-Markt bemühte sich dann redlich um Stabilisierung. Und nach fast einem Jahrzehnt relativer Ruhe an den Weltbörsen fragen sich nun manche: Geht es weiter nach unten, droht ein echtes Kursgemetzel mit Verlusten im zweistelligen Bereich? Sind das gar die Vorboten eines wirtschaftlichen Abschwungs, einer Rezession?
Tatsächlich löschten die Kursrutsche die Zugewinne des bisherigen Jahres innerhalb weniger Stunden aus. Am Dienstagnachmittag lag der Dow Jones um rund zwei Prozent unter dem Wert, mit dem er ins neue Jahr gestartet war. Beim deutschen DAX belief sich das Minus auf fast vier Prozent, beim britischen FTSE 100 auf sechs Prozent. Auch der japanische Leitindex, Nikkei, hat seit Jahresbeginn fünf Prozent eingebüßt.
Grund I: Die Geldpolitik
Die alte Weisheit, wonach es an den Börsen auf lange Sicht zwar so gut wie immer nach oben, auf kurze Sicht aber auch immer schnell nach unten gehen kann, hat sich bestätigt. Und doch: Auf Jahressicht können sich Aktionäre immer noch über ordentliche Zugewinne freuen, und bereits im Laufe des Dienstag kehrte in New York schon wieder so etwas wie Normalität ein.
Die wichtigsten Indizes notierten zwischendurch im Plus. Wer nach Gründen für das bemerkenswerte Minus der vergangenen Tage sucht, stößt schnell auf die Geldpolitik und die wichtigste Notenbank der Welt, die Federal Reserve. Die US-Wirtschaft läuft rund, die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Niveau seit 17 Jahren, die größten Firmen melden einen Rekordgewinn nach dem anderen.
Das Problem: Investoren fürchten, dass die Fed die Zinsen schneller als erwartet anheben könnte, um einer Überhitzung der Wirtschaft vorzubeugen. Und höhere Zinsen sind schlecht für Aktien. Einerseits müssen Firmen dann mehr für Kredite zahlen und expandieren in der Regel vorsichtiger. Andererseits werden andere Anlageformen, von Staatsanleihen bis hin zum Sparbuch, wieder interessanter.
Nicht gerade zur Beruhigung trägt in diesem Umfeld die Tatsache bei, dass mit Jerome Powell gerade ein neuer Fed-Chef sein Amt angetreten hat und Präsident Donald Trump einen Gutteil der offenen Vorstandsposten im siebenköpfigen Komitee noch nicht nachbesetzt hat. Das allein ist natürlich noch kein Grund zur Panik, die Notenbank steht keineswegs führungslos da. Doch ist die Sorge unter Investoren gestiegen, dass den Geldpolitikern ein Fehler passiert, etwa ein unbedacht schneller Ausstieg aus der Politik des lockeren Geldes.
Grund II: Die Computer
Ein weiterer Grund für ein derartiges Kursgemetzel im Minutentakt, wie es am späten Montag an der Wall Street zu beobachten war, sind die automatisierten Systeme der Wertpapierhändler. Diese verkaufen Aktien im Wert von vielen Millionen, wenn gewisse Meilensteine unterschritten werden. Ein Händler, der für einen Hedgefonds in New York arbeitet, beschreibt das im Gespräch mit der „Presse“so: „Als der Dow Jones 1000 Punkte verloren hatte, wusste ich genau, dass es jetzt blitzschnell viel weiter nach unten gehen wird.“
Viele Computer sind so programmiert, dass sie bei einem Verlust von 1000 Punkten möglichst schnell Aktien abstoßen. Entsprechend stand plötzlich ein Minus von 1600 Punkten zu Buche. Das sorgt für hohe Volatilität, also starke Kursschwankungen, ist aber an sich noch kein Drama. Schnell erkennen „echte“Händler, dass hier übertrieben reagiert wurde. Sie kaufen wieder zu, und die Kurse steigen wieder langsam an. Die Sorge, dass automatisierte Handelssysteme die Wirtschaft an die Wand fahren können, ist also eher unberechtigt.
Grund III: Die Verunsicherung
Nach den Ereignissen der vergangenen Tage ist jedenfalls zu erwarten, dass die Aktienmärkte dieser Welt in den kommenden Monaten wieder öfter die Schlagzeilen dominieren werden. So wie zuletzt – stets langsam, aber sicher, nach oben – wird es nicht weitergehen. Zu unklar ist, wie die Zentralbanken aus ihrer lockeren Geldpolitik, auf deren Pfad sie nach der Krise 2008 abgebogen sind, wieder aussteigen wollen.
Das zeigt die Verunsicherung rund um die Federal Reserve. Und das gilt nicht zuletzt auch für die Europäische Zentralbank, die immer noch Staatsanleihen um 30 Milliarden Euro pro Monat kauft und eine Zinserhöhung frühestens für 2019 vorsieht.